Draußen sind es 48 Grad im Schatten. Die alte Klimaanlage rattert laut. Ich blicke auf den kitschigen Wandkalender.
Natürlich kenne ich das heutige Datum genau.
Wir schreiben den 11. Juli 2015.
Niemand auf der Welt würde jemals den 11. Juli wieder vergessen, der heute weltweit als Feiertag gilt.
Für zwei Monate bin ich in den USA als Berater tätig. Ich habe mir ein altes Hausboot gemietet. Das Wasser brauche ich auch heute noch. Obwohl wir uns täglich R-Faxe mit Videoanhang schicken, fehlt mir Brigitte sehr. Es ist schon sehr prägend, wenn man lange Zeit immer zusammen gewesen ist.
Heute sitze ich an den letzten Seiten meines Buches und frage mich, wie so viele Male vorher, ob es richtig war, dass ich dem Drängen nachgegeben habe, dieses Buch zu schreiben.
Ist ein weiteres Buch zum Thema 7/11 wirklich notwendig?
Zahlreiche Bücher sind inzwischen erschienen, welche aus der Betroffenheit einzelner Personen heraus schildern, wie nur eine Woche Chaos in über 100 Ländern das Gesicht der Welt veränderte.
Von mir erwartet man nun eine neutrale Sichtweise auf die Dinge. Immerhin bin ich einer, der von der ersten Stunde an eingebunden war, ohne persönlich von den Ereignissen betroffen zu sein.
Man hat mir sogar Einblick in die bisher streng geheimen Gesprächsprotokolle der Krisenstäbe gegeben. Bis heute bin ich in die Entscheidungen von FINDERS eingebunden. Bei FINDERS bin ich inzwischen eines der wenigen Urgesteine, einer der den Kontakt zur Basis nicht verloren hat.
Ich lege größten Wert darauf, in diesem Buch nur Fakten aufzuschreiben, welche mir persönlich bekannt geworden oder in offiziellen Protokollen nachzulesen sind. Inzwischen sind auch die meisten Verhörprotokolle der mehrjährigen staatlichen Untersuchung öffentlich.
Lediglich das letzte Kapitel über die Langeweile habe ich frei erfunden. Ich fand einen irren Hippie zur Situation viel passender, als mögliche politische Hintergründe.
Bis heute sind wohl über 500 Bücher erschienen, welche meist als reißerische Katastrophengeschichten Einzelschicksale von 7/11 beleuchten und für die nächsten 10 Jahre ausreichend Stoff für Filme bieten.
Sicher wird eines Tages noch ein Buch erscheinen, was passiert wäre, wenn es FINDERS nicht gegeben hätte. Für mich ist ein solches Katastrophen-Szenario unverstellbar. Heute ist FINDERS längst ein international tätiger Konzern. Nur wenige erinnern sich daran, dass die Erfolgsstory von FINDERS den mutigen Entscheidungen einiger Weniger zu verdanken ist. Gerade den heimlichen Helden wie Christian Wolff, der heute in Vergessenheit geraten ist, widme ich dieses Buch. Dies war mit ein Grund, warum ich mich für ein eigenes Buch entschieden habe.
Ich habe eine eigene Sichtweise auf die Dinge. Die Sichtweise eines Außenstehenden – schließlich hatten Frankreich und Deutschland nach einer kurzen Finanzkrise ein Wirtschaftswunder als Exportland für die englischsprachigen Ländern geschaffen – habe ich in den mir bekannten Büchern nicht gefunden.
Ich habe meine Erfahrungen in der Schnittstelle zwischen Mensch, Gesellschaft und Technik in dieses Buch mit eingebracht. In der zunehmenden Globalisierung stehen Regierungen einzelner Länder unter ständig wachsendem Rechtfertigungsdruck. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen eindeutig, was passiert, wenn Regierungen nur auf technische Entwicklungen reagieren, anstatt selbst verantwortlich gerade in den innovativen Bereichen mit funktionierenden gesellschaftlichen Konzepten die Zukunft zu gestalten. Immer mehr stehen Regierungen im Zwiespalt, ihren Bürgern einerseits funktionierende Strukturen und andererseits möglichst große Freiheiten zur individuellen Entfaltung anbieten zu müssen.
Vertrauen ist das wichtigste Gut unserer Gesellschaft. Vertrauen wurde über Jahrhunderte als kollektives Bewusstsein aufgebaut. Ist dieses Vertrauen zerstört, fallen wir in unserer gesellschaftlichen Entwicklung weit zurück.
Für die Menschen, die mein Buch zu einer Zeit lesen werden, wo Einzelheiten in Vergessenheit geraten sind, hier eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse nach 7/11:
Die Kommunikationsleitungen waren bereits am 13. 7. 2011 wieder weitgehend funktionsfähig. Doch die Menschen hatten inzwischen andere Probleme, als zu telefonieren oder am Computer zu sitzen.
Längst war die Krise real. Kaufhäuser und Apotheken waren geplündert worden.
Die Häfen konnten keine Waren mehr aufnehmen, weil die Lagerarbeiter nicht zur Arbeit erschienen. Lebensmittel vergammelten an Bord der Schiffe.
Viele Fabriken hatten aufgehört zu produzieren, weil sie weder durch die Zulieferbetriebe Nachschub erhielten, noch in der Lage waren, auszuliefern.
Schnell entstand ein Schwarzmarkt, in dem man wie im zweiten Weltkrieg in Deutschland sich nun in den USA durch Tauschhandel über Wasser hielt.
Ausländer verließen panisch die USA. Um ein komplettes Zusammenbrechen des Flugverkehrs zu verhindern, wurden Auslandsflüge bis auf Weiteres eingestellt.
Und die Börse?….. Bis heute gilt ein ungeschriebenes Gesetz unter allen Journalisten weltweit: „Nie die Gesamtschadenssumme nennen!“
Nach wenigen Tagen merkten die Menschen, dass niemand an Vogelgrippe starb.
Weil die Regierung hierüber nicht aufgeklärt hatte, verloren manche Menschen völlig den Bezug zur Realität und jegliches Vertrauen zur Gesellschaft. Sie konnten keinem Beruf mehr nachgehen, weil sie alles hinterfragten und völlig unfähig waren, Entscheidungen zu treffen.
Dem Internet traute keiner mehr.
Gooday wurde wegen seiner immer ausgefeilteren Filtersoftware besonders in China und den noch immer vorhandenen Diktaturen Afrikas erfolgreich und konnte so den in den USA zusammenbrechenden Werbemarkt leidlich kompensieren. Frisches Geld sammelte Gooday nicht mehr ein. Ungerechter Weise wurde auch das Onlinebankkonzept abgestraft, obwohl es doch hervorragend funktioniert hatte.
Die meisten Geldgeber entzogen dem Zinssteigerungsportal das Geld. Dies war innerhalb von wenigen Tagen möglich.
Ob die hohe Zahl der Insolvenzen auf die nicht mehr bezahlbaren Kredite oder den Zusammenbruch jeglicher Infrastruktur zurückzuführen war, konnte später nicht mehr ermittelt werden.
Gleichzeitig mit Gooday siedelten über 1000 Unternehmen nach Asien um. Erst viel später wurde bekannt, dass den USA durch den Know How Verlust über 10.000 patentierte Innovationen verloren gingen – viele davon ursprünglich in Europa angemeldet. An all diesen Unternehmen war Gooday beteiligt.
Im Januar 2013 riefen die geschädigten englischsprachigen Länder das FINDERS-Konsortium um Hilfe an. Hier rechnete man sich aus, dass man in der gewünschten Geschwindigkeit nur expandieren konnte, wenn man jedem Land die Möglichkeit gab, in Lizenz die von FINDERS eingesetzten Technologien auf die Landessprache anzupassen. Die Bedingungen von FINDERS waren akzeptabel.
Zusätzlich zur Zahlung einer an die hohe Wertigkeit der Technologie angepassten Lizenzgebühr musste sich jedes Land verpflichten, die gleichen Kategorien einzuführen. Die Semantikredaktion blieb weiterhin zentral in Deutschland. Außerdem wurde die Einhaltung der FINDERS-Grundsätze „Wer? Wert? Wahr?“ von unabhängigen Landeskommissionen ständig überwacht.
Trotz Einführung der Achtcard nahm die Benutzung des Internets nur schleppend wieder zu. FINDERS war froh, nicht selbst in den USA vertreten zu sein, denn online würde lange Jahre kaum Geschäft mehr gemacht werden können. Den Lizenzeinnahmen standen zumindest keine Ausgaben gegenüber.
Onlineregistrierungen ohne Achtcard waren fast gänzlich eingestellt worden. Hier waren die Erinnerungen an den Berechtigungszettel für das Antivirusmedikament noch allzu wach. Bereits Mai 2013 führten alle Regierungsbehörden weltweit die Achtcard für die Kommunikation untereinander ein.
Jeder, der es sich leisten konnte, kaufte ein Achtcard-Gerät und benutzte nur noch das Trusted Internet.
Der weltweit führende Mobilfunkanbieter Vodafone hatte seine im Laufe der Zeit gewachsenen guten Kontakte zum FINDERS-Konsortium genutzt, um ein eigenes Betriebssystem auf Basis der Kategorien zu entwickeln. Das Handy hat inzwischen als zentrale Bedieneinheit für fast alle digitalen Aktionen Einzug gehalten.
Die Verursacher der Krise hat man bis heute nicht gefunden. Nach der Krise war kein Verantwortlicher von Human International auffindbar.
Den Onlineredakteuren konnte keinerlei Verschulden nachgewiesen werden. Ryman, wie viele andere auch, konnte glaubhaft nachweisen, dass er im guten Glauben gehandelt hatten.
Ach, fast hätte ich es vergessen!
Im Oktober 2013 zog FINDERS mit dem Hauptsitz nach Berlin um. Trotz größter Anstrengungen war es Friedrichshafen nicht möglich, genügend Platz für die schnelle Expansion des Konzerns zu bieten. Besonders der Flughafen war dem Ansturm der vielen ausländischen Besucher nicht mehr gewachsen.
Man fand eine Lösung mit hohem Symbolcharakter. FINDERS erwarb den alten Flughafen Tempelhof. Unter strengsten Umweltauflagen durften flüsterleise kleine Passagiermaschinen wieder landen. Eine schnelle U-Bahn Verbindung nach Schönefeld wurde ebenfalls eingerichtet.
Endlich war es Deutschland möglich, sich bei Amerika zu bedanken.
Danke für die Rosinenbomber. Jetzt sind wir dran.