Die Lektion – Florida, Missouri River – Juli 2015, Kapitel 48, Teil II

Draußen sind es 48 Grad im Schatten. Die alte Klimaanlage rattert laut. Ich blicke auf den kitschigen Wandkalender.
Natürlich kenne ich das heutige Datum genau.
Wir schreiben den 11. Juli 2015.
Niemand auf der Welt würde jemals den 11. Juli wieder vergessen, der heute weltweit als Feiertag gilt.

Für zwei Monate bin ich in den USA als Berater tätig. Ich habe mir ein altes Hausboot gemietet. Das Wasser brauche ich auch heute noch. Obwohl wir uns täglich R-Faxe mit Videoanhang schicken, fehlt mir Brigitte sehr. Es ist schon sehr prägend, wenn man lange Zeit immer zusammen gewesen ist.

Heute sitze ich an den letzten Seiten meines Buches und frage mich, wie so viele Male vorher, ob es richtig war, dass ich dem Drängen nachgegeben habe, dieses Buch zu schreiben.
Ist ein weiteres Buch zum Thema 7/11 wirklich notwendig?
Zahlreiche Bücher sind inzwischen erschienen, welche aus der Betroffenheit einzelner Personen heraus schildern, wie nur eine Woche Chaos in über 100 Ländern das Gesicht der Welt veränderte.

Von mir erwartet man nun eine neutrale Sichtweise auf die Dinge. Immerhin bin ich einer, der von der ersten Stunde an eingebunden war, ohne persönlich von den Ereignissen betroffen zu sein.
Man hat mir sogar Einblick in die bisher streng geheimen Gesprächsprotokolle der Krisenstäbe gegeben. Bis heute bin ich in die Entscheidungen von FINDERS eingebunden. Bei FINDERS bin ich inzwischen eines der wenigen Urgesteine, einer der den Kontakt zur Basis nicht verloren hat.

Ich lege größten Wert darauf, in diesem Buch nur Fakten aufzuschreiben, welche mir persönlich bekannt geworden oder in offiziellen Protokollen nachzulesen sind. Inzwischen sind auch die meisten Verhörprotokolle der mehrjährigen staatlichen Untersuchung öffentlich.

Lediglich das letzte Kapitel über die Langeweile habe ich frei erfunden. Ich fand einen irren Hippie zur Situation viel passender, als mögliche politische Hintergründe.

Bis heute sind wohl über 500 Bücher erschienen, welche meist als reißerische Katastrophengeschichten Einzelschicksale von 7/11 beleuchten und für die nächsten 10 Jahre ausreichend Stoff für Filme bieten.

Sicher wird eines Tages noch ein Buch erscheinen, was passiert wäre, wenn es FINDERS nicht gegeben hätte. Für mich ist ein solches Katastrophen-Szenario unverstellbar. Heute ist FINDERS längst ein international tätiger Konzern. Nur wenige erinnern sich daran, dass die Erfolgsstory von FINDERS den mutigen Entscheidungen einiger Weniger zu verdanken ist. Gerade den heimlichen Helden wie Christian Wolff, der heute in Vergessenheit geraten ist, widme ich dieses Buch. Dies war mit ein Grund, warum ich mich für ein eigenes Buch entschieden habe.

Ich habe eine eigene Sichtweise auf die Dinge. Die Sichtweise eines Außenstehenden – schließlich hatten Frankreich und Deutschland nach einer kurzen Finanzkrise ein Wirtschaftswunder als Exportland für die englischsprachigen Ländern geschaffen – habe ich in den mir bekannten Büchern nicht gefunden.

Ich habe meine Erfahrungen in der Schnittstelle zwischen Mensch, Gesellschaft und Technik in dieses Buch mit eingebracht. In der zunehmenden Globalisierung stehen Regierungen einzelner Länder unter ständig wachsendem Rechtfertigungsdruck. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen eindeutig, was passiert, wenn Regierungen nur auf technische Entwicklungen reagieren, anstatt selbst verantwortlich gerade in den innovativen Bereichen mit funktionierenden gesellschaftlichen Konzepten die Zukunft zu gestalten. Immer mehr stehen Regierungen im Zwiespalt, ihren Bürgern einerseits funktionierende Strukturen und andererseits möglichst große Freiheiten zur individuellen Entfaltung anbieten zu müssen.
Vertrauen ist das wichtigste Gut unserer Gesellschaft. Vertrauen wurde über Jahrhunderte als kollektives Bewusstsein aufgebaut. Ist dieses Vertrauen zerstört, fallen wir in unserer gesellschaftlichen Entwicklung weit zurück.

Für die Menschen, die mein Buch zu einer Zeit lesen werden, wo Einzelheiten in Vergessenheit geraten sind, hier eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse nach 7/11:

Die Kommunikationsleitungen waren bereits am 13. 7. 2011 wieder weitgehend funktionsfähig. Doch die Menschen hatten inzwischen andere Probleme, als zu telefonieren oder am Computer zu sitzen.

Längst war die Krise real. Kaufhäuser und Apotheken waren geplündert worden.
Die Häfen konnten keine Waren mehr aufnehmen, weil die Lagerarbeiter nicht zur Arbeit erschienen. Lebensmittel vergammelten an Bord der Schiffe.
Viele Fabriken hatten aufgehört zu produzieren, weil sie weder durch die Zulieferbetriebe Nachschub erhielten, noch in der Lage waren, auszuliefern.
Schnell entstand ein Schwarzmarkt, in dem man wie im zweiten Weltkrieg in Deutschland sich nun in den USA durch Tauschhandel über Wasser hielt.
Ausländer verließen panisch die USA. Um ein komplettes Zusammenbrechen des Flugverkehrs zu verhindern, wurden Auslandsflüge bis auf Weiteres eingestellt.
Und die Börse?….. Bis heute gilt ein ungeschriebenes Gesetz unter allen Journalisten weltweit: „Nie die Gesamtschadenssumme nennen!“

Nach wenigen Tagen merkten die Menschen, dass niemand an Vogelgrippe starb.
Weil die Regierung hierüber nicht aufgeklärt hatte, verloren manche Menschen völlig den Bezug zur Realität und jegliches Vertrauen zur Gesellschaft. Sie konnten keinem Beruf mehr nachgehen, weil sie alles hinterfragten und völlig unfähig waren, Entscheidungen zu treffen.
Dem Internet traute keiner mehr.

Gooday wurde wegen seiner immer ausgefeilteren Filtersoftware besonders in China und den noch immer vorhandenen Diktaturen Afrikas erfolgreich und konnte so den in den USA zusammenbrechenden Werbemarkt leidlich kompensieren. Frisches Geld sammelte Gooday nicht mehr ein. Ungerechter Weise wurde auch das Onlinebankkonzept abgestraft, obwohl es doch hervorragend funktioniert hatte.
Die meisten Geldgeber entzogen dem Zinssteigerungsportal das Geld. Dies war innerhalb von wenigen Tagen möglich.
Ob die hohe Zahl der Insolvenzen auf die nicht mehr bezahlbaren Kredite oder den Zusammenbruch jeglicher Infrastruktur zurückzuführen war, konnte später nicht mehr ermittelt werden.
Gleichzeitig mit Gooday siedelten über 1000 Unternehmen nach Asien um. Erst viel später wurde bekannt, dass den USA durch den Know How Verlust über 10.000 patentierte Innovationen verloren gingen – viele davon ursprünglich in Europa angemeldet. An all diesen Unternehmen war Gooday beteiligt.
Im Januar 2013 riefen die geschädigten englischsprachigen Länder das FINDERS-Konsortium um Hilfe an. Hier rechnete man sich aus, dass man in der gewünschten Geschwindigkeit nur expandieren konnte, wenn man jedem Land die Möglichkeit gab, in Lizenz die von FINDERS eingesetzten Technologien auf die Landessprache anzupassen. Die Bedingungen von FINDERS waren akzeptabel.
Zusätzlich zur Zahlung einer an die hohe Wertigkeit der Technologie angepassten Lizenzgebühr musste sich jedes Land verpflichten, die gleichen Kategorien einzuführen. Die Semantikredaktion blieb weiterhin zentral in Deutschland. Außerdem wurde die Einhaltung der FINDERS-Grundsätze „Wer? Wert? Wahr?“ von unabhängigen Landeskommissionen ständig überwacht.
Trotz Einführung der Achtcard nahm die Benutzung des Internets nur schleppend wieder zu. FINDERS war froh, nicht selbst in den USA vertreten zu sein, denn online würde lange Jahre kaum Geschäft mehr gemacht werden können. Den Lizenzeinnahmen standen zumindest keine Ausgaben gegenüber.
Onlineregistrierungen ohne Achtcard waren fast gänzlich eingestellt worden. Hier waren die Erinnerungen an den Berechtigungszettel für das Antivirusmedikament noch allzu wach. Bereits Mai 2013 führten alle Regierungsbehörden weltweit die Achtcard für die Kommunikation untereinander ein.
Jeder, der es sich leisten konnte, kaufte ein Achtcard-Gerät und benutzte nur noch das Trusted Internet.

Der weltweit führende Mobilfunkanbieter Vodafone hatte seine im Laufe der Zeit gewachsenen guten Kontakte zum FINDERS-Konsortium genutzt, um ein eigenes Betriebssystem auf Basis der Kategorien zu entwickeln. Das Handy hat inzwischen als zentrale Bedieneinheit für fast alle digitalen Aktionen Einzug gehalten.

Die Verursacher der Krise hat man bis heute nicht gefunden. Nach der Krise war kein Verantwortlicher von Human International auffindbar.
Den Onlineredakteuren konnte keinerlei Verschulden nachgewiesen werden. Ryman, wie viele andere auch, konnte glaubhaft nachweisen, dass er im guten Glauben gehandelt hatten.

Ach, fast hätte ich es vergessen!
Im Oktober 2013 zog FINDERS mit dem Hauptsitz nach Berlin um. Trotz größter Anstrengungen war es Friedrichshafen nicht möglich, genügend Platz für die schnelle Expansion des Konzerns zu bieten. Besonders der Flughafen war dem Ansturm der vielen ausländischen Besucher nicht mehr gewachsen.
Man fand eine Lösung mit hohem Symbolcharakter. FINDERS erwarb den alten Flughafen Tempelhof. Unter strengsten Umweltauflagen durften flüsterleise kleine Passagiermaschinen wieder landen. Eine schnelle U-Bahn Verbindung nach Schönefeld wurde ebenfalls eingerichtet.

Endlich war es Deutschland möglich, sich bei Amerika zu bedanken.
Danke für die Rosinenbomber. Jetzt sind wir dran.

Langeweile -irgendwo in Kalifornien – einige Wochen später, Kapitel 47, Teil II

In einem Mietwagen fuhr Frank Miller auf einer endlos geraden Straße. Er hatte einen südländischen Teint. Zu dem makellos sitzenden weißen Anzug trug er einen weißen Hut. Ein rosa Einstecktuch schmückte seine Brusttasche.

Nur durch einen Meilenstein gekennzeichnet, bog eine kleine Straße rechts ab. Miller fuhr diesen Weg nicht zum ersten Mal. Er war sich jedoch sicher, dass es das letzte Mal sein würde.
Er hatte sich im französischsprachigen Bereich Kanadas in der Nähe von Québec ein Domizil für seinen Lebensabend eingerichtet.

In der Ferne tauchte eine Farm auf. Das Tor war ungewöhnlich gut gesichert und mit Kameras ausgestattet.
Nachdem er seinen Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte, öffnete sich das Tor automatisch mit lautem Quietschen.
Er durchfuhr eine große Parkanlage. In den letzten Jahren hatte man der Natur freien Lauf gelassen. Aus dem ursprünglich aufwändig angelegten Park war eine interessante Mischung aus Wildwuchs und Gestaltung mit Springbrunnen, Steingärten und Skulpturen entstanden.
Er hielt vor dem großen Haus.
Die Haustür öffnete sich automatisch. Im Inneren erwartete ihn alles, was Ende der 90er Jahre für viel Geld zu haben war. Die Wände schmückten Plasmabildschirme mit wechselnden Bildmotiven. Das Licht ging automatisch an, sobald er einen Raum betrat.
Ein automatischer Staubsauger sauste wie ein Ufo über den Boden. Ein Fremder hätte sich in den verschiedenen Zimmern verlaufen. Miller war kein Fremder mehr. Zu oft war er in den letzten Jahren an diesem Ort gewesen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.
Miller betrat ein mindestens 300 qm großes Wohnzimmer.
Das Zimmer wurde von einer gigantischen Sitzlandschaft dominiert und gab den Blick zu einem großen Pool frei.
Als einziger saß in einer Ecke ein langhaariger Hippie.
Außenstehende hätten ihn für einen Einbrecher gehalten. Er hatte ein äußerst ungepflegtes Äußeres. Seine Haltung und die ihn umgebenden Flaschen ließen keinen Zweifel daran, dass er heftig dem Alkohol zugesprochen hatte.
Miller zeigte sich hierdurch in keiner Weise beeindruckt, obwohl ihm diese Szene neu war.
„Tolles Outfit. Perücke?“, fragte Miller, wie von ihm erwartet.
„Nee, angeschweißt. Für so einen Retrolook muss man schon was tun“, gab das Gegenüber mit echten glasigen Augen zurück.
„Ich bin gekommen, um unser Vorhaben abzuschließen“, kam Miller zur Sache. Er wollte seinen Aufenthalt so kurz wie möglich halten.
Vorhaben, das war der offizielle Sprachgebrauch zwischen ihnen gewesen. Beide wussten, dass dieser Begriff in keiner Weise der historischen Tragweite des Geschehenen gerecht wurde.
„Da liegt der Koffer mit dem restlichen Geld“, lallte der Hippie. Nichts deutete darauf hin, dass er einmal einer der einflussreichsten Männer der Computerbranche gewesen war.
Miller nahm den Koffer und wandte sich zum Gehen. Ein Abschiedsgruß wurde von ihm nicht erwartet.
Doch dann blieb er stehen: „Eine Frage hätte ich noch?“
„Was ne?.“
„Warum haben Sie das Vorhaben gestartet? Wenn ich das richtig sehe, haben Sie doch einige Millionen verloren, obwohl wir alle Medikamente verkauft haben.“
„Geld, Geld interessiert mich schon lange nicht mehr. Ich sitze hier und habe alles – und habe nichts.“
Sein Arm wischte einen Bogen über sein ganzes Besitztum.
Nach einer langen Pause sagte er: „Ich habe es getan, weil ich es kann.“ Er trank einen kräftigen Schluck aus seinem Whiskyglas.
„Mir ist so langweilig. Haben Sie keine Idee für ein noch größeres Vorhaben? Irgendetwas mit einer wirklich bleibenden Wirkung?“
Miller ging wortlos. Er wollte nur noch weg.
Draußen schüttelte er den Kopf.
Was für eine Welt.

Krisenstab der US-Regierung im Luftraum der USA – am gleichen Tag, 16.00 Uhr, Kapitel 46, Teil II

Airforce Number One hatte gerade abgehoben.
Randle flog zum ersten Mal in der Präsidentenmaschine. Unter anderen Umständen wäre er sehr stolz gewesen. Doch jetzt hätte er viel dafür gegeben, wenn er nicht Berater des US-Krisenstabs geworden wäre.

„Sie wollen mir also sagen, ich sitze hier und lasse alle Regierungsgeschäfte liegen, weil wir keinen Notstand haben und keine Epidemie?“
„So einfach ist das nicht, Frau Präsidentin. Alle Voraussetzungen für einen Notstand sind gegeben. Die Kommunikation ist fast vollständig zusammengebrochen. Die Krankenhäuser sind überfüllt. Von den ersten Schießereien und Plünderungen wird berichtet. Das Außenministerium kann sich vor Hilfsanfragen anderer Länder nicht retten. Wir haben keinerlei Hinweise, wer hinter diesem Anschlag steckt!“
Der Innenminister war sichtlich ins Schwitzen gekommen.

„Was raten Sie mir?“ Die Präsidentin wendete sich an Fred.
Fred Swinsteen war als erfahrener Krisenpsychologe langjähriges Mitglied des Krisenstabes.
„Es spielt keine Rolle, ob es eine Epidemie gibt oder nicht. Wichtig ist, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht. Die ersten Reaktionen zeigen eindeutig, dass massive Präsenz von Soldaten in den Großstädten zu weiteren Eskalationen führen würde. Wo Soldaten gesehen wurden, gingen die Menschen davon aus, dass sie erschossen werden und liefen weg. Als Folge beginnen viele, sich selbst zu bewaffnen.“
„Welcher Meinung ist das Militär?“
General Rensey antwortete entschieden: „Ich kann nur 30 % der Kräfte mobilisieren, welche uns normaler Weise in einem Notstand zur Verfügung stehen würden. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es sich um eine Krise in über 100 Ländern handelt. Wenn die Chinesen, der Nahe Osten, die Inder – technische Analysen gehen davon aus, dass die Attacke in New Delhi begann – oder die Russen dahinter stecken, dann haben diese Länder die Möglichkeit, uns mit geringstem Widerstand zu übernehmen. Wir müssen unsere Truppen auf die Verteidigung der lebenserhaltenden Infrastruktur konzentrieren. Mehr können wir nicht leisten.“
„Na, die Herren scheinen sich ja ausnahmsweise einig zu sein.“

Um 18.00 Uhr hielt die Präsidentin eine Fernsehansprache an die Nation. Sie rief nicht den Notstand aus. Andererseits widersprach sie mit keinem Wort der Nachricht, dass ein Notstand wegen Vogelgrippe ausgerufen worden sei.
Jeder einzelne Satz der Rede war von der juristischen Regierungsabteilung mehrfach überarbeitet worden.

Nur Gebäude, welche für den Erhalt der Infrastruktur unbedingt nötig waren, wie Kraftwerke, Wasserwerke, militärische Anlagen und Verwaltungsgebäude wurden durch Militär und Polizei gesichert.

Die Krisenanalyse – Pentagon – zur gleichen Zeit, Kapitel 45, Teil II

Tony Randle hatte es im Blut, an diesem Tag lief etwas schief.
Es hatte schon morgens begonnen, als er die teure Weinflasche – reserviert für den heutigen Abend mit Sarah – aus Versehen vom Tisch gestoßen hatte.
Natürlich ärgerte ihn der Verlust der teuren Flasche. Er hatte eigentlich auch keine Zeit, die Schweinerei wegzumachen. Der Wein war auf den Teppichboden und unter die Schränke gelaufen.
Das bringt es voll, dachte er, Sarah das erste Mal bei mir zu Hause und bei mir stinkt es wie in einer Kneipe.
Obwohl er nur das Nötigste beseitigt hatte und aus Verzweiflung anschließend die ganze Wohnung mit seinem Deo einsprayte, kam er hoffnungslos zu spät zur Arbeit.

Überrascht sahen ihn seine Mitarbeiter an. Sie waren es einfach nicht gewöhnt, dass ihr Chef zu spät kam.
Noch immer gestresst, setze sich Randle an seinen Arbeitsplatz.
Irgend etwas störte ihn. Schon oft war es sein untrügerischer Instinkt gewesen, der ihn eindeutig von seinen Mitarbeitern abhob.
Er checkte seine E-Mails – nichts. Er sah sich den vom Chef vom Dienst ausgestellten Nachtbericht durch – keine Besonderheiten.
Er versuchte sich zu entspannen und lehnte sich zurück.
Sein Büro erreichte man über einige Stufen aus dem großen Analyseraum für Terrorbekämpfung. Er konnte von seinem Schreibtisch aus alle 50 Arbeitsplätze sehen.
Jeder Mitarbeiter dieser Abteilung sprach mehrere Sprachen und war für die Terroranalyse von bis zu 10 Ländern zuständig.
Jeder Arbeitsplatz hatte 2 Bildschirme. Auf dem rechten wurden im regelmäßigen Wechsel neu indizierte Internetseiten mit auffälligem Kriminalitätsrank angezeigt.
Der zweite Bildschirm zeigte die aktuell vom Mitarbeiter bearbeiteten Informationen an.
Nun wusste Randle, was ihn störte. Die Frequenz des Wechsels der neu indizierten Seiten war an verschiedenen Arbeitsplätzen unterschiedlich.
Eine Verlangsamung des Wechsels war eigentlich technisch nicht möglich. Die Frequenz war auf das menschliche Auffassungsvermögen ausgerichtet und sollte zusätzlich zu den vom Rechner vorgeschlagenen Prioritäten einen Gesamteindruck der Lage vermitteln.
Der einzige Grund, warum sich die Anzeigefrequenz verringern konnte war,..
Doch das war unmöglich. Das hieße ja, es kämen weniger Dokumente rein, als angezeigt werden konnten.
Ehe er sich intensiver mit dem Problem beschäftigen konnte, kam ein wild mit einem Zettel gestikulierender Mitarbeiter auf sein Büro zu.
Der Frischling hatte gerade erst bei der Terrorismusbekämpfung angefangen.
Randle hatte seinen Namen nicht behalten.
Ohne zu klopfen, stürmte er in Randles Büro: „Vogelgrippe, 100 % Sterblichkeit.“
„Na, Na.“ Randle war sauer: „Haben Sie in Ihrer Ausbildung nichts gelernt. Es gibt keinen Krisenfall, der eine solche Aufregung rechtfertigt. Bitte werden sie wieder ruhig, konzentrieren Sie sich und überlegen genau, was Sie mir sagen wollen.“
Ehe der Frischling antworten konnte, klingelte das Telefon. „Randle“ und gleich darauf mit deutlich veränderter Stimme „Ja, Herr Direktor, wir sind informiert“. Herrisch riss er dem Frischling den Zettel aus der Hand.
„Nein, Herr Direktor, es liegen noch keine verifizierten Daten vor, wir arbeiten auf Hochtouren.“
„Nein, Herr Direktor, ich sage doch, es gibt noch keine persönliche Bestätigung von einem unserer Informanten, dass die Vogelgrippe ausgebrochen ist.“
„Sie hatten bereits einen Anruf aus London? Dann handelt es sich also um ein internationales Problem?“
„Bitte haben Sie Verständnis, ich habe einfach zu wenige Informationen, um Ihnen sagen zu können, wann eine halbwegs brauchbare Analyse möglich ist.“
Der Direktor hatte kein Verständnis. Er musste ohne Hintergrundinformationen entscheiden, ob er die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika belästigen sollte oder nicht.

Randle checkte kurz seine E-Mails. Ja, er hatte auch eine bekommen. Er sprang auf und rannte ins Großraumbüro.
„Alle lassen alles liegen und hören mir zu! Wir stecken anscheinend in der immer befürchteten großen Virenattacke. Man erwartet von uns, so schnell wie möglich Antworten.
Gibt es einen terroristischen Hintergrund? Es gibt erste Anzeichen für einen internationalen Anschlag. Womöglich schon in einer Stunde ruft die Präsidentin persönlich an, dann brauche ich Antworten. Noch Fragen?“
Mike Condor – für den Bereich Naher Osten zuständig – fragte: „Weiß man, ob das Virus über einen Trojaner eingeschleust wurde?“
„Ich rede von Vogelgrippe, passen Sie doch auf“, antwortete Randle absolut wütend auf sich selbst. So ein Anfängerfehler hätte ihm nicht unterlaufen dürfen. Schließlich war das erste, was ein Agent lernte, sich klar auszudrücken. Weitere Fehler durften sie sich einfach nicht leisten.

Randle ging zurück in sein Büro und versuchte ruhig zu werden. Wieder fiel sein Blick auf die Bildschirme seiner Mitarbeiter. An einigen Arbeitsplätzen wechselten die Seiten in der gewohnten Frequenz. Andere Monitore zeigten einen immer langsamer werdenden Wechsel. Manche wechselten gar nicht mehr.
Was bedeutete das? Nur zwei Mitarbeiter waren für den Bereich USA zuständig. Diese Bildschirme zeigten bereits seit mehreren Minuten keinen Wechsel mehr an.
Das konnte nur bedeuten, die Suchmaschinen im Bereich USA indizierten keine Seiten mehr, oder – er wusste nicht was schlimmer war – die einzelnen Seiten wurden von den Suchmaschinen nicht mehr erreicht.
Das Pentagon verfügte über ein redundantes eigenes Netzwerk. Die wesentlichen Backbones der Welt konnten mit Vorrang vor anderen Anfragen adressiert werden. Außerdem gab es ein eigenes Kommunikationsnetzwerk zu den militärischen Kommandostellen.

Randle rief die Gruppenleiter zu sich und teilte die Aufgaben auf:
„Tim, sehen Sie den unterschiedlich schnellen Wechsel der Arbeitsplatzbildschirme? Ich möchte wissen, warum die Frequenz unterschiedlich ist und ob es ein Muster gibt, welches die Unterschiede erklärt.“
Tim verstand erst nicht, sah aus dem Fenster von Randle alle Rechner im Überblick. Dann nickte er.
„Sven, Sie überprüfen, wer den Befehl zum Notstand gegeben hat. Nicht per E-Mail! Ich möchte, dass Sie möglichst persönlich mit dem Verteidigungsminister sprechen. Warum kommt eine solche Anweisung offen über das Internet und nicht über unser VPN.“
„Oliver, Sie analysieren, wie die Lage draußen ist. Wie viele Einlieferungen haben die Krankenhäuser? Wie ist die Sterblichkeit? Ist wirklich eine Übertragung über die Luft möglich?“
„Frank sie analysieren das regionale Ausmaß der Epidemie. Sind alle Regionen der USA betroffen? Welche weiteren Länder sind betroffen?“
Dann zu allen: „Um 13.00 Uhr wieder in meinem Büro und zwar mit umfassenden Ergebnissen.“
Es war bereits 11.30 Uhr. Er wusste, einen umfassenden Bericht würde er bis 13.00 Uhr nicht erwarten können.
Irgend etwas sagte ihm jedoch, dass die Präsidentin ihn nicht länger in Ruhe lassen würde.

Um 13.00 Uhr hatten alle ihr Bestes getan. Fest stand:
· Alle englischsprachigen Länder waren betroffen,
· die skandinavischen Länder, die Länder, in denen französisch und deutsch gesprochen wird, nicht.

„Das klingt nach einem Ausschalten der Konkurrenz durch FINDERS“, Tim war ohne anzuklopfen eingetreten.
„Sagen Sie so etwas auf keinen Fall laut. Was denken Sie, was eine solche Aussage an internationalen Verwicklungen auslösen würde? So was hat schon Kriege ausgelöst!“
· Der Befehl für den Notstand kam weder vom Direktor des Heimatschutzes, noch vom Innenminister. Das war schnell geklärt. Fast alle Mitarbeiter, welche im Internet mit E-Mail-Adresse eingetragen waren oder in einem öffentlichen Firmenverzeichnis, hatten die gleiche E-Mail erhalten.
· Die Lageberichte aus den einzelnen Städten in den USA glichen sich. Das Chaos war auf den Straßen ausgebrochen. Zahlreiche Unfälle hatten ein Durchkommen auf den meisten Straßen unmöglich gemacht.
Die meisten Radiosender hatten sich kurz bei Kollegen rückversichert. Als diese die Meldung bestätigten und anschließend die Telefonleitungen zusammenbrachen, wurde in fast allen Radiosendern die E-Mail über den Ausnahmezustand vorgelesen.
· Die meisten Menschen hatten ihr Auto einfach mitten auf der Straße stehen gelassen und waren zu dem nächsten für sie erreichbaren Computer gerannt. Tatsächlich schien Human International als Einziger bestens informiert zu sein und an allen wichtigen Flughäfen mit speziell gesicherten Fahrzeugen Medikamente zu verkaufen. Zumindest von 5 Flughäfen lag eine Bestätigung vor, dass hier Medikamente verkauft wurden.
· Die Krankenhäuser meldeten alle extrem viele Neuzugänge.

„Oliver, haben Sie herausgefunden, wie viele an Vogelkrippe erkrankt sind?“
„Wollen Sie wirklich, dass ich gezielt nach Vogelgrippefällen frage? Dann bricht doch schnell eine Panik aus. So etwas ist Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation.“
Dieser Oliver konnte einen zur Weißglut treiben mit seinen Vorschriften. Allerdings war Randle nicht lebensmüde, diese Entscheidung auf seine Kappe zu nehmen. Oliver würde im Zweifel mit seinem Vermerk über seinen Widerspruch Karriere machen und Randle könnte zukünftig in Alaska Parkbänke beaufsichtigen.
„Also gut, halten sie den Dienstweg ein. Klären Sie die Zuständigkeiten. Aber mit höchster Priorität!“
Inzwischen zeichnete sich eine Katastrophe globalen Ausmaßes ab. Über 50 Länder hatten schon das auswärtige Amt um Hilfe gebeten.
Es gab einfach kein einheitliches Bild. Er konnte unmöglich diese Ereignisse weitergeben. Immerhin würden auf Grundlage seiner Analyse weitreichende Entscheidungen gefällt.

Das Telefon klingelte: „Herr Randle, ich verbinde zur Präsidentin.“
Nicht einmal 2 Minuten später war die Präsidentin am Apparat: „Einen kurzen Lagebericht bitte.“
Randle fasste die Ereignisse kurz zusammen und argumentierte vorsichtig: „Ich kann noch keine endgültige Aussage treffen. Es ergibt sich ein absolut widersprüchliches Bild. Frau Präsidentin, ich kann noch nicht einmal sagen, wann wir den Überblick haben. Wir haben keinerlei Informationen über die üblichen Quellen wie Gesundheitsamt, Weltgesundheitsorganisation, Seuchenbekämpfung, etc. vorliegen. Nur jede Menge Anfragen zur Echtheit des E-Mails! Wenn Sie innerhalb kürzester Zeit zum Ausmaß der Vogelgrippe etwas wissen wollen, müssen wir mit den Krankenhäusern offen über eine Epidemie sprechen.“
„Und damit eine Panik auslösen?“
„Genau das ist das Risiko.“
„So weit ich derzeit die Lage einschätzen kann, ist diese Panik doch längst ausgebrochen.“
„Ja, aber wir bestätigen durch die Anfrage indirekt die Meldungen über den Ausbruch der Vogelgrippe.“
„Ich melde mich wieder.“

Randle fand, das Gespräch war gar nicht so schlecht gelaufen. Schließlich hatte er sich nach den Anweisungen der Katastrophenpläne verhalten.
Bei fast allen bekannten Katastrophen waren die Schäden an Menschen und Material durch Panikreaktionen weitaus größer, als durch die eigentliche Katastrophe.

Außerdem, keine Entscheidung war in diesem Fall für seine Karriere definitiv besser als eine falsche Entscheidung.