Die Krisenanalyse – Pentagon – zur gleichen Zeit, Kapitel 45, Teil II

Tony Randle hatte es im Blut, an diesem Tag lief etwas schief.
Es hatte schon morgens begonnen, als er die teure Weinflasche – reserviert für den heutigen Abend mit Sarah – aus Versehen vom Tisch gestoßen hatte.
Natürlich ärgerte ihn der Verlust der teuren Flasche. Er hatte eigentlich auch keine Zeit, die Schweinerei wegzumachen. Der Wein war auf den Teppichboden und unter die Schränke gelaufen.
Das bringt es voll, dachte er, Sarah das erste Mal bei mir zu Hause und bei mir stinkt es wie in einer Kneipe.
Obwohl er nur das Nötigste beseitigt hatte und aus Verzweiflung anschließend die ganze Wohnung mit seinem Deo einsprayte, kam er hoffnungslos zu spät zur Arbeit.

Überrascht sahen ihn seine Mitarbeiter an. Sie waren es einfach nicht gewöhnt, dass ihr Chef zu spät kam.
Noch immer gestresst, setze sich Randle an seinen Arbeitsplatz.
Irgend etwas störte ihn. Schon oft war es sein untrügerischer Instinkt gewesen, der ihn eindeutig von seinen Mitarbeitern abhob.
Er checkte seine E-Mails – nichts. Er sah sich den vom Chef vom Dienst ausgestellten Nachtbericht durch – keine Besonderheiten.
Er versuchte sich zu entspannen und lehnte sich zurück.
Sein Büro erreichte man über einige Stufen aus dem großen Analyseraum für Terrorbekämpfung. Er konnte von seinem Schreibtisch aus alle 50 Arbeitsplätze sehen.
Jeder Mitarbeiter dieser Abteilung sprach mehrere Sprachen und war für die Terroranalyse von bis zu 10 Ländern zuständig.
Jeder Arbeitsplatz hatte 2 Bildschirme. Auf dem rechten wurden im regelmäßigen Wechsel neu indizierte Internetseiten mit auffälligem Kriminalitätsrank angezeigt.
Der zweite Bildschirm zeigte die aktuell vom Mitarbeiter bearbeiteten Informationen an.
Nun wusste Randle, was ihn störte. Die Frequenz des Wechsels der neu indizierten Seiten war an verschiedenen Arbeitsplätzen unterschiedlich.
Eine Verlangsamung des Wechsels war eigentlich technisch nicht möglich. Die Frequenz war auf das menschliche Auffassungsvermögen ausgerichtet und sollte zusätzlich zu den vom Rechner vorgeschlagenen Prioritäten einen Gesamteindruck der Lage vermitteln.
Der einzige Grund, warum sich die Anzeigefrequenz verringern konnte war,..
Doch das war unmöglich. Das hieße ja, es kämen weniger Dokumente rein, als angezeigt werden konnten.
Ehe er sich intensiver mit dem Problem beschäftigen konnte, kam ein wild mit einem Zettel gestikulierender Mitarbeiter auf sein Büro zu.
Der Frischling hatte gerade erst bei der Terrorismusbekämpfung angefangen.
Randle hatte seinen Namen nicht behalten.
Ohne zu klopfen, stürmte er in Randles Büro: „Vogelgrippe, 100 % Sterblichkeit.“
„Na, Na.“ Randle war sauer: „Haben Sie in Ihrer Ausbildung nichts gelernt. Es gibt keinen Krisenfall, der eine solche Aufregung rechtfertigt. Bitte werden sie wieder ruhig, konzentrieren Sie sich und überlegen genau, was Sie mir sagen wollen.“
Ehe der Frischling antworten konnte, klingelte das Telefon. „Randle“ und gleich darauf mit deutlich veränderter Stimme „Ja, Herr Direktor, wir sind informiert“. Herrisch riss er dem Frischling den Zettel aus der Hand.
„Nein, Herr Direktor, es liegen noch keine verifizierten Daten vor, wir arbeiten auf Hochtouren.“
„Nein, Herr Direktor, ich sage doch, es gibt noch keine persönliche Bestätigung von einem unserer Informanten, dass die Vogelgrippe ausgebrochen ist.“
„Sie hatten bereits einen Anruf aus London? Dann handelt es sich also um ein internationales Problem?“
„Bitte haben Sie Verständnis, ich habe einfach zu wenige Informationen, um Ihnen sagen zu können, wann eine halbwegs brauchbare Analyse möglich ist.“
Der Direktor hatte kein Verständnis. Er musste ohne Hintergrundinformationen entscheiden, ob er die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika belästigen sollte oder nicht.

Randle checkte kurz seine E-Mails. Ja, er hatte auch eine bekommen. Er sprang auf und rannte ins Großraumbüro.
„Alle lassen alles liegen und hören mir zu! Wir stecken anscheinend in der immer befürchteten großen Virenattacke. Man erwartet von uns, so schnell wie möglich Antworten.
Gibt es einen terroristischen Hintergrund? Es gibt erste Anzeichen für einen internationalen Anschlag. Womöglich schon in einer Stunde ruft die Präsidentin persönlich an, dann brauche ich Antworten. Noch Fragen?“
Mike Condor – für den Bereich Naher Osten zuständig – fragte: „Weiß man, ob das Virus über einen Trojaner eingeschleust wurde?“
„Ich rede von Vogelgrippe, passen Sie doch auf“, antwortete Randle absolut wütend auf sich selbst. So ein Anfängerfehler hätte ihm nicht unterlaufen dürfen. Schließlich war das erste, was ein Agent lernte, sich klar auszudrücken. Weitere Fehler durften sie sich einfach nicht leisten.

Randle ging zurück in sein Büro und versuchte ruhig zu werden. Wieder fiel sein Blick auf die Bildschirme seiner Mitarbeiter. An einigen Arbeitsplätzen wechselten die Seiten in der gewohnten Frequenz. Andere Monitore zeigten einen immer langsamer werdenden Wechsel. Manche wechselten gar nicht mehr.
Was bedeutete das? Nur zwei Mitarbeiter waren für den Bereich USA zuständig. Diese Bildschirme zeigten bereits seit mehreren Minuten keinen Wechsel mehr an.
Das konnte nur bedeuten, die Suchmaschinen im Bereich USA indizierten keine Seiten mehr, oder – er wusste nicht was schlimmer war – die einzelnen Seiten wurden von den Suchmaschinen nicht mehr erreicht.
Das Pentagon verfügte über ein redundantes eigenes Netzwerk. Die wesentlichen Backbones der Welt konnten mit Vorrang vor anderen Anfragen adressiert werden. Außerdem gab es ein eigenes Kommunikationsnetzwerk zu den militärischen Kommandostellen.

Randle rief die Gruppenleiter zu sich und teilte die Aufgaben auf:
„Tim, sehen Sie den unterschiedlich schnellen Wechsel der Arbeitsplatzbildschirme? Ich möchte wissen, warum die Frequenz unterschiedlich ist und ob es ein Muster gibt, welches die Unterschiede erklärt.“
Tim verstand erst nicht, sah aus dem Fenster von Randle alle Rechner im Überblick. Dann nickte er.
„Sven, Sie überprüfen, wer den Befehl zum Notstand gegeben hat. Nicht per E-Mail! Ich möchte, dass Sie möglichst persönlich mit dem Verteidigungsminister sprechen. Warum kommt eine solche Anweisung offen über das Internet und nicht über unser VPN.“
„Oliver, Sie analysieren, wie die Lage draußen ist. Wie viele Einlieferungen haben die Krankenhäuser? Wie ist die Sterblichkeit? Ist wirklich eine Übertragung über die Luft möglich?“
„Frank sie analysieren das regionale Ausmaß der Epidemie. Sind alle Regionen der USA betroffen? Welche weiteren Länder sind betroffen?“
Dann zu allen: „Um 13.00 Uhr wieder in meinem Büro und zwar mit umfassenden Ergebnissen.“
Es war bereits 11.30 Uhr. Er wusste, einen umfassenden Bericht würde er bis 13.00 Uhr nicht erwarten können.
Irgend etwas sagte ihm jedoch, dass die Präsidentin ihn nicht länger in Ruhe lassen würde.

Um 13.00 Uhr hatten alle ihr Bestes getan. Fest stand:
· Alle englischsprachigen Länder waren betroffen,
· die skandinavischen Länder, die Länder, in denen französisch und deutsch gesprochen wird, nicht.

„Das klingt nach einem Ausschalten der Konkurrenz durch FINDERS“, Tim war ohne anzuklopfen eingetreten.
„Sagen Sie so etwas auf keinen Fall laut. Was denken Sie, was eine solche Aussage an internationalen Verwicklungen auslösen würde? So was hat schon Kriege ausgelöst!“
· Der Befehl für den Notstand kam weder vom Direktor des Heimatschutzes, noch vom Innenminister. Das war schnell geklärt. Fast alle Mitarbeiter, welche im Internet mit E-Mail-Adresse eingetragen waren oder in einem öffentlichen Firmenverzeichnis, hatten die gleiche E-Mail erhalten.
· Die Lageberichte aus den einzelnen Städten in den USA glichen sich. Das Chaos war auf den Straßen ausgebrochen. Zahlreiche Unfälle hatten ein Durchkommen auf den meisten Straßen unmöglich gemacht.
Die meisten Radiosender hatten sich kurz bei Kollegen rückversichert. Als diese die Meldung bestätigten und anschließend die Telefonleitungen zusammenbrachen, wurde in fast allen Radiosendern die E-Mail über den Ausnahmezustand vorgelesen.
· Die meisten Menschen hatten ihr Auto einfach mitten auf der Straße stehen gelassen und waren zu dem nächsten für sie erreichbaren Computer gerannt. Tatsächlich schien Human International als Einziger bestens informiert zu sein und an allen wichtigen Flughäfen mit speziell gesicherten Fahrzeugen Medikamente zu verkaufen. Zumindest von 5 Flughäfen lag eine Bestätigung vor, dass hier Medikamente verkauft wurden.
· Die Krankenhäuser meldeten alle extrem viele Neuzugänge.

„Oliver, haben Sie herausgefunden, wie viele an Vogelkrippe erkrankt sind?“
„Wollen Sie wirklich, dass ich gezielt nach Vogelgrippefällen frage? Dann bricht doch schnell eine Panik aus. So etwas ist Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation.“
Dieser Oliver konnte einen zur Weißglut treiben mit seinen Vorschriften. Allerdings war Randle nicht lebensmüde, diese Entscheidung auf seine Kappe zu nehmen. Oliver würde im Zweifel mit seinem Vermerk über seinen Widerspruch Karriere machen und Randle könnte zukünftig in Alaska Parkbänke beaufsichtigen.
„Also gut, halten sie den Dienstweg ein. Klären Sie die Zuständigkeiten. Aber mit höchster Priorität!“
Inzwischen zeichnete sich eine Katastrophe globalen Ausmaßes ab. Über 50 Länder hatten schon das auswärtige Amt um Hilfe gebeten.
Es gab einfach kein einheitliches Bild. Er konnte unmöglich diese Ereignisse weitergeben. Immerhin würden auf Grundlage seiner Analyse weitreichende Entscheidungen gefällt.

Das Telefon klingelte: „Herr Randle, ich verbinde zur Präsidentin.“
Nicht einmal 2 Minuten später war die Präsidentin am Apparat: „Einen kurzen Lagebericht bitte.“
Randle fasste die Ereignisse kurz zusammen und argumentierte vorsichtig: „Ich kann noch keine endgültige Aussage treffen. Es ergibt sich ein absolut widersprüchliches Bild. Frau Präsidentin, ich kann noch nicht einmal sagen, wann wir den Überblick haben. Wir haben keinerlei Informationen über die üblichen Quellen wie Gesundheitsamt, Weltgesundheitsorganisation, Seuchenbekämpfung, etc. vorliegen. Nur jede Menge Anfragen zur Echtheit des E-Mails! Wenn Sie innerhalb kürzester Zeit zum Ausmaß der Vogelgrippe etwas wissen wollen, müssen wir mit den Krankenhäusern offen über eine Epidemie sprechen.“
„Und damit eine Panik auslösen?“
„Genau das ist das Risiko.“
„So weit ich derzeit die Lage einschätzen kann, ist diese Panik doch längst ausgebrochen.“
„Ja, aber wir bestätigen durch die Anfrage indirekt die Meldungen über den Ausbruch der Vogelgrippe.“
„Ich melde mich wieder.“

Randle fand, das Gespräch war gar nicht so schlecht gelaufen. Schließlich hatte er sich nach den Anweisungen der Katastrophenpläne verhalten.
Bei fast allen bekannten Katastrophen waren die Schäden an Menschen und Material durch Panikreaktionen weitaus größer, als durch die eigentliche Katastrophe.

Außerdem, keine Entscheidung war in diesem Fall für seine Karriere definitiv besser als eine falsche Entscheidung.

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