Shaona Magu besuchte zum letzten Mal ihre Eltern in Dhunikolhu, bevor sie die elfstündige Reise nach Deutschland antrat. Sie konnte schon verstehen, warum so viele Deutsche hier Urlaub machten. Die 5 Sterne Urlaubsinsel verfügte über alles, was Zivilisation brauchte. Sie war im Verhältnis zu anderen Einheimischen in luxuriösen Verhältnissen aufgewachsen. Da beide Eltern im Service der Luxusferieninsel arbeiteten, stand ihnen für die vierköpfige Familie ein großes Apartment mit Kochecke und ein Bad mit fließend warmem Wasser zur Verfügung. Die Menschen lebten dicht neben einander auf völlig unterschiedlicher technischer Entwicklungsstufe.
Die Magus hatten das Tor zur Welt. So nannten sie das Fernsehen. Wie oft hatte Shaona als Kind in den Zeiten, in denen ihre Eltern arbeiten mussten, die geheimnisvolle fremde Welt gesehen. Über Satellit bekamen sie auch deutsches Fernsehen. Hier lernte sie ihre ersten deutschen Worte.
Oft fuhr sie mit ihren Eltern auf dem Boot nur zwei Inseln weiter zu den Großeltern. Die meisten auf der Insel ernährten sich wie vor hundert Jahren vom Fischfang. Eine zusätzliche Einnahmequelle hatten sie durch die Herstellung von Muschelschmuck und einfachen Tonarbeiten.
Die Regierung in Male war weit weg. Fast alles regelte man auf der Insel mit 100 Einwohnern selbst. Jeder kannte jeden. Man schlief in einfachen Hütten. Die Großeltern galten als wohlhabend, weil sie einen Raum aus Steinen hatten und zwei Hühner. Er gab auf der ganzen Insel weder Radio noch Fernsehen, noch eine Zeitung.
Nur einmal, als Großvater sehr krank war, da hatte ihn ein Schnellboot nach Male ins Krankenhaus gebracht. Viele Monate danach war er äußerst verwirrt gewesen. 50 Jahre hatte er die Insel nicht verlassen. Was er in Male sah, verstand er nicht. Nicht verarbeitete Bilder schwirrten ihm immer wieder im Kopf herum und ließen ihn gar den täglichen Fischfang vergessen.
Die Deutschen, mit denen Shaona sich so oft wie möglich unterhielt, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, konnten gar nicht versehen, wieso sie so gespannt auf schlechtes Wetter, Schnee und Eis war. In New Dheli hatte sie den Batchalor in economics mit einer durchschnittlichen Note abgeschlossen. Nie hätte sie sich träumen lassen, aus Deutschland eine Greencard zuerhalten. Seit 2002 gab es in Deutschland fast Vollbeschäftigung. Aus Deutschland waren extra Jobwerber angereist, um jeden, der Deutsch konnte und Akademiker war, anzuwerben. Nun hatte Magu ausgerechnet dadurch einen Vorteil, dass sie am entlegensten Fleckchen der Welt mitten unter Deutschen groß geworden war. In Deutschland sollte sie in der englischen Semantikredaktion des FINDERS Konsortiums arbeiten. Man erklärte ihre Arbeit so: „Sie werden die Sprache so zerlegen, wie sie Fisch zerlegen. Die Gräten in die eine Tonne und die guten Fischstücke in eine andere“.
Richtig verstanden hatte sie es nicht. Aber das Gehalt war traumhaft, richtig, als wäre sie eine echte Deutsche. Nur ein Bruchteil davon würde reichen, dass ihre Eltern auf Dhunikolhu wie Könige leben würden. Für ihre Studiengebühren hatten Mutter und Vater schwer arbeiten müssen. Über eins war sich Shaona jedoch sicher. Sie würde in ihrem ganzen Leben nicht mehr so viele Fische sehen, wie in ihrer Jugend.
Die Korallenriffe würde sie vermissen.