Es war kalt, die Windturbine rappelte laut – kein Grund aufzustehen. Ich räkelte mich unter der dicken warmen Decke. Der Platz in dem Doppelbett neben mir war leer. Einer der wenigen Nachteile unseres neuen Lebens war, dass Brigitte und ich zeitversetzt arbeiten mussten. Brigitte war sicher schon am Computer und bearbeitete neue Scoutanfragen. Mein Blick schweifte über die Mahagonitäfelung der Kapitänskajüte des alten Kohlefrachters. Eigentlich war der Begriff Kapitänskajüte nicht ganz korrekt. Als der 1929 gebaute Frachter noch in Betrieb war, fungierte dieser Deckaufbau, der nur von dem dahinterliegenden Führerhaus überragt wurde, als Küche und Aufenthaltsraum. Erst nachdem wir 2003 den Frachter für wenig Geld gekauft und umgebaut hatten, wurde dieser Raum unser Schlafzimmer. Ich erinnere mich noch gut daran, wie viel Arbeit es war, in dem Teil, in welchem der Küchenblock stand, das Holz von Ruß zu entfernen und optisch den anderen Seiten anzugleichen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Mein Blick schweifte weiter zu der Luke über einer kleinen Stufe in das Führerhaus. Rechts und links ging eine Tür ins Freie. In der Mitte stand ein halbhoher Kasten, dessen Deckel aufgeklappt war. Auch die vorderen Flügeltüren waren nicht verschlossen. Heute war der 28. September 2006. Der Tag an dem Brigitte offiziell eine Entscheidung treffen musste, ob sie endgültig ihr Leben ändern wollte. Brigitte war 7 Jahre jünger als ich und Lehrerin für Deutsch und Mathematik. Sie hatte sich vor fast einem Jahr eine Auszeit vom Lehrerberuf genommen, weil ich sie gebeten hatte, mich in meiner Kategorienagentur als Kategorienmanager zu unterstützen. Eigentlich war Brigitte die Art mütterlicher Typ, bei dem man sich einen Lehrerberuf gut vorstellen konnte. Auch hatte sie keine Autoritätsprobleme. Ihre Schüler behandelten Sie mit Respekt.
Trotzdem fiel es mir nicht schwer, sie von dem Sabbatjahr zu überzeugen. Nach über 20 Jahren Lehrerdasein war sie es einfach müde, immer wieder den gleichen Stoff zu vermitteln. Und obwohl sich durch die Agenda 2005 mit R-Fax und strukturiertem Internet für alle Deutschen in den letzten Jahren immense Veränderungen im Arbeitsalltag genauso wie im Privatleben ergeben hatten, schien die Zeit in der Schule stehen geblieben zu sein. Die Lehrpläne selbst der Gymnasien gingen nur im Wahlpflichtfach Informatik ansatzweise auf die ungeheuren Herausforderungen ein, welche nun im zweiten Schritt Deutschland bei der Agenda 2010 mit dem Ziel der Weltmarktführerschaft im Onlinehandel bevor standen.
Obwohl ich hoffte, dass Brigitte keine Zweifel mehr hatte, heute dem Schulrat ihre endgültige Kündigung zuzuschicken, hatte ich mir fest vorgenommen, das Thema nicht anzusprechen und sie nicht zu beeinflussen. Es gab also einen weiteren Grund, im Bett zu bleiben und eine gute Gelegenheit, meine eigene Entscheidung vor 4 Jahren zu überdenken.
Ja 4 Jahre war es erst her, dass ich jeden Tag als Briefträger in Karlsruhe mit dem Fahrrad die Post ausgetragen habe. Ich dachte, dass ich diese Aufgabe bis zur Rente wohl durchhalten würde, obwohl mir insbesondere die Kälte im Winter immer mehr zusetzte. Spaß machte es mir, dass ich nach und nach alle Leute in meinem Stadtbezirk kannte und alle mich grüßten. Auch die kleinen Episoden ließen mir den Alltag nie langweilig werden. Einmal war es der spontane Kuss einer alten Frau, welche nach langen Jahren erstmals einen Brief von ihrer im Ausland lebenden Tochter erhielt, ein anderes Mal war es ein Liebesbrief an einen Schüler, den dieser heiß ersehnte und im kalten Winter zwei Stunden im Kelleraufgang wartete, um den Brief vor seinen Eltern abzufangen.
Das Frühjahr 2002 war eine meiner schlimmsten aber im nachhinein auch meine aufregenste Zeit. Damals hatte die Postgewerkschaft zum Streik aufgerufen und über 60% der nicht beamteten Bediensteten waren diesem Aufruf gefolgt. Mein Leben war bis dahin ohne große Höhen und Tiefen verlaufen. Realschule mit mittelmäßigem Abschluss, dann Lehre bei der Post. Postbeamte, das waren wird Friederichs nun in der dritten Generation. Da lernt man schon vom Vater eine bestimmte Art der Auftretens, welche einem im späteren Beruf die Arbeit erheblich erleichtert. Eine Mischung aus Respektsperson und Fürsorger, der immer ein offenes Ohr für die Menschen hat, jedoch nie die Distanz verliert und auch in der Lage ist, das Einschreiben zur Räumungsklage zuzustellen. Mit 25 hatte ich Brigitte – damals noch im Studium kennengelernt und wir waren beide nach einigen sehr unerfreulichen Beziehungsversuchen froh, einen verlässlichen Partner gefunden zu haben. Unser gemeinsames Gehalt und die doppelte Verbeamtung ermöglichten es uns, ein kleines Häuschen am Karlsruher Stadtrand zu kaufen. Ich träumte immer davon, endlich in Rente mit einem kleinen Segelboot um die Welt zu segeln. Brigitte teilte meine Leidenschaft fürs Wasser, mit mir permanent auf engstem Raum ohne weitere Beschäftigung außer herumzureisen zusammenzusitzen, konnte sie sich jedoch nicht vorstellen.
Nun ist es also ein altes Kohleschiff mit immerhin stattlichen 33 Metern Länge und 5 Metern Breite geworden, von vorne bis hinten überbaut –immerhin. Und über Beschäftigung können wir uns als Kategorienmanager nun wirklich nicht beklagen. Ja fast wäre ich 2002 mit gerade mal 45 Jahren schon Rentner geworden. Genau das war nämlich das Angebot an die verbeamteten Postler, Frühverrentung wegen Wegfall des Arbeitsplatzes oder Starthilfe und Umschulung zum Kategorienmanager, mit der Chance eine der 40. 000 Lizenzen als als Kategorienagentur zu erhalten. Wie alles angefangen hat? Was bekomme ich denn spontan zusammen?
- „Die Stadt Friedrichshafen war seit jeher bekannt für ihre pfiffigen Köpfe. Ob Zeppelinbau oder Dornier, ungewöhnlich viele bahnbrechende Erfindungen fanden in dieser Stadt ihren Anfang“, so lautete der Beginn eines Artikels zu dem Thema, welchen ich noch wörtlich in Erinnerung hatte. Auf dem Höhepunkt des Dotcom Hypes 1999 wollte jeder im Internet mitmischen. Bayern wollte als erster einen virtuellen Marktplatz aufbauen. Viele Banken in Deutschland träumten davon, dass ihre Kunden die gesamten Onlineeinkäufe über die der Bank gehörenden Marktplätze tätigen würden, das ganze Ruhrgebiet sollte eine einzige Onlinecommunity werden. Ob Behörde, Aktiengesellschaft oder Start -Up, alle waren überzeugt, das Internet ist die Zukunft.
Zu dieser Zeit überredete der Bürgermeister von Friedrichshafen Herrn Kaminski, den Geschäftführer eines kleinen Hamburger Providers, als Initiator für ein neu gebautes Technologiezentrum zu fungieren. Eine GmbH wurde gegründet. Kaminski brachte sein Know How und Mitarbeiter ein, welche sich schon seit einiger Zeit mit einer speziellen Zugangssoftware zum Internet beschäftigten. Ungefähr zu dieser Zeit kam aus den USA nach Yahoo auch Google nach Deutschland und eroberten in Windeseile Marktanteile. Im Jahr 2000 dann sah es so aus, dass viele der deutschen Start Ups, die in oft übereilt fertig gestellten Businessplänen die definierten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Einen vorläufigen Höhepunkt der Rückschläge bildete der Übernahmeversuch von Mannesmann durch Vodafone im Februar.
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Durch die guten Kontakte von Herrn Kaminski zudem Management von Mannesmann –Einzelheiten sind , obwohl diese Ereignisse ausführlich in der Presse diskutiert wurden bis heute nicht bekannt – wurde wohl ein Rettungsplan geschmiedet. Der damalige Bürgermeister von Friedrichshafen – der Name fällt mir nicht ein – nutzte seinerseits seine guten Kontakte zum Bundeskanzler und der gab zahlreiche Studien in Auftrag. Das Ergebnis war die Agenda 2005. Kaffeeduft stieg mir in die Nase. Das war immer ein untrügliches Zeichen, dass Brigitte nun mit meinem Auftauchen rechnete. 9. 00 Uhr sah ich auf meinem Handy, welches ich wie fast jeder immer bei mir hatte, heute wichtiger und universeller einsetzbar als jedes Portmonee. Ich räkelte mich noch einmal und sprang aus dem Bett. Dann zog ich die Vorhänge zurück. Die Kapitänskajüte hatte an allen drei Seiten Fenster. Das Boot war am Ufer der Rhône festgemacht. Über den Feldern lag noch immer Nebel. Die Sonne kämpfte sich nur gelegentlich durch die Wolken. „Es wird Herbst“ dachte ich. An der vierten Seite der Kajüte näherte ich mich dem Kasten. Darunter führte eine steile breite Leiter ins Dunkel. Immer noch liebte ich diesen Weg durchs Schiff und fühlte mich nach 1929 zurückversetzt, wenn ich diese Leiter herunterstieg. Wie immer, verzichtete ich darauf, das Licht anzumachen und wartete, bis sich meine Augen an das Halbdunkel dieses Raumes gewöhnt hatten. Auch der unter der Kapitänskajüte liegende Raum war komplett mit Mahagoni verkleidet. Jedoch waren hier die Schreinerarbeiten noch wesentlich aufwendiger ausgeführt. Die Heckseite wurde von einem schönen alten Ganzkörperspiegel verziert, auf den indirektes Sonnenlicht von einem kleinen Dachfenster fiel, welches sich von außen fast unsichtbar unter dem Führerhaus versteckte. Auf der dritten Seite gab es nur zwei aufwendig gestaltete Türen.
Im oberen Teil der Türen waren zwei mit gefrästen Blumenmustern verzierte Gläser eingesetzt. Dahinter befanden sich früher zwei 1,50 m mal 1,5m großen Schlafräume. Wir nutzen beide Räume nun als zusätzlichen Stauraum. Schon interessant, mit wie wenig Platz man früher auskam. Die Räume bestanden jeweils aus einem Bett. Unter dem Bett ließen sich über die gesamte Breite zwei Türen öffnen. Hier schliefen die Kinder. Dies war der gesamte Platz, welcher bis 1970 den Fuhrleuten zur Verfügung stand. Erst später wurde vom Vorbesitzer der dahinterliegende offene Frachtraum überbaut.
Auf der Vorderseite des Schrank Wohnraumes zeugten eine Metallplatte und eine Marmorumrahmung davon, dass hier einmal ein offener Kamin direkt unter dem Küchenofen für Wärme gesorgt hatte. Heute stand anstelle des Kamins ein inzwischen auch schon antiker schmiedeeiserner Heizkörper.
Nachdem ich mich angezogen hatte, wendete ich mich den letzten beiden Schranktüren auf der Steuerbordseite zu. Anstelle des alten Schrankraums begann hier der sehr schmale nur 1,70 m hohe Gang zum vorderen 2.30 m hohen und modern ausgebauten Bereich. Hier forderte die ursprüngliche Bauart des Frachtschiffes sein Tribut. An den alten Wohnbereich der Fahrleute war direkt der nur von außen zu erreichende Maschinenraum mit dem 400 PS Diesel angebaut. Dieser komplett umschlossene Raum war nur durch diesen schmalen Gang zu erreichen. „Kompost“ hörte ich Brigitte fluchen und sofort machte sich bei mir ein schlechtes Gewissen breit. Fast alles hatten wir mit diesem Schiffskauf richtig gemacht. Auf viele Dinge war ich richtig stolz, wie z. B. die weitgehende Autarkie des Bootes. Strom wurde über das Windrad oder die Sonnenkollektoren erzeugt. Heißwasser durch den Wärmetauscher.
Aber die Komposttoilette war eindeutig eine Fehlentscheidung gewesen. Die eigens aus Schweden importierte Toilette Marke Separett bestand aus zwei Abteilungen. Im vorderen Bereich sollte das kleine Geschäft ablaufen, während im hinteren Bereich das große Geschäft zielgenau in ein Loch treffen sollte. Setzte mansich auf die Klobrille, so schob sich über dem Loch ein Deckel zur Seite. Erstaunlich war, dass der zukünftige Kompost wie vom Hersteller der Toilette garantiert, nicht stank, wenn man optimalerweise eine Tasse Stroh nach seinem Geschäft hinterher kippte und keine weitere Flüssigkeit den hinteren Bereich erreichte. Tatsächlich gab es im Alltag jedoch zahlreiche Hürden zu überwinden, welche wir vorher vonder klassischen Toilette nicht kannten. An welcher Hürde Brigitte nun gerade gescheitert war, würde ich sicher nicht nachfragen.
Ich ging also den langen Gang am unsichtbaren Maschinenraum, der Klotür, der Badezimmertür und dem ebenfalls unsichtbaren 4000 Liter Wassertank vorbei und kam in der komplett mit hellem Holz verkleideten Schiffsmesse an. Ich ging nach Steuerbord vorbei an der Sambatreppe welche zu dem mittschiffs liegenden Außensitzbereich führte.
Fortsetzung folgt in einer Woche.
Hier ist Platz für Ihren eigenen Handlungsstrang. Gibt es 2006 weitere Ereignisse, die Sie in den Alltag der Frederichs einbauen wollen?