Wahr oder nicht wahr? – Mannheim, Rheinhafen – Am gleichen Tag, Kapitel 42, Teil II

Wie üblich saß ich abends um 17.00 Uhr mit Brigitte zur Übergabe zusammen. Die warme Sommersonne schien durch die Fenster unseres Frachtschiffs.
Brigitte sagte: „Ich bin irgendwie unruhig, ich habe gestern nacht schlecht geträumt.“
Sie ließ ihren noch heißen Kaffee stehen und ging ins Büro um die neuesten R-Faxe zu checken.
„Ole, kommst Du mal?“
Ich kannte ihre Stimme gut und wusste, sie hatte in ihren Nachrichten etwas gefunden, was ihre schlechten Träume bestätigte.
„Isabella hat eine komische Nachricht geschickt.“
„Notstand, Vogelgrippe 100% Sterblichkeit, Übertragung durch die Luft, bitte bestätigen!“
Was sollte das. Isabella war mit uns befreundet, aber solche Scherze traute ich ihr nicht zu. Sie war ein sehr ernsthafter Mensch. Ich setzte mich an den anderen Rechner.
„Versuch Du, Isabella zu erreichen, ich recherchiere, was eigentlich los ist.“

Ich rief meinen Browser auf, die Seite www.finders.de war standardmäßig voreingestellt. Zum Suchbegriff „Vogelgrippe“ kam die Kategorie Epidemien mit 50 Ergebnissen, die 10 mit heutigem Datum nach Regionen geordnet zuerst.

Das FINDERS-Konsortium hatte WWW eine neue Bedeutung gegeben.
Alle Unternehmen, Agenturen, Comunitymanager, Semantikmanager welche mit FINDERS zusammenarbeiteten, mussten eine Erklärung unterschreiben, in der sie sich den Grundsätzen „W wie Wer?, W wie Wert? ,W wie Wahr? „ verpflichteten.
Ist der Angezeigte, der, der er vorgibt zu sein?
Welchen Wert hat ein Angebot für den Suchenden?
Sind die Angaben wahr?

Zertifizierung für die Kategorie
„Endkunden kaufen Schuhe“
als Kategorienagentur

Durch die unabhängige WWW-F Zertifizierungsstelle wird ständig die Einhaltung folgender Kriterien geprüft:

· Wer?
Ist der Anbieter der, den der Suchende erwartet?
Möchte der Anbieter gefunden werden?
· Wahr?
Entspricht die Information den Erwartungen des Suchenden?
· Wert?
Wird bewertet, welchen Wert eine Information für den Suchenden hat?

Geprüft 1.1.2010
Zertifizierungsstelle
FINDERS-Konsortium
Friedrichshafen

Hierdurch gelang es FINDERS, trotz des rasanten Vormarschs von Gooday, die Marktanteile von über 50% in den Ländern mit deutscher, französischer Sprache, sowie in den skandinavischen Ländern und Japan zu halten.
Die Ergebnisanzeige von Informationskategorien war anders aufgebaut, als die Anzeige von Produktkategorien. Während bei Produktkategorien Hersteller und Händler gelistet waren, konnten sich je Informationskategorie maximal 50 Redaktionen bei FINDERS akkreditieren. Die Auflagen waren hart, aber es lohnte sich. Jede Meldung musste durch eine Person vor Ort mit Achtcard bestätigt werden, damit diese veröffentlicht werden durfte. In der Ergebnisanzeige gab es keine Werbung.
Trotzdem war eine Akkreditierung äußerst lukrativ, da man bei jedem Wort der redaktionellen Texte durch einen Rechtsklick eine zu diesem Wort passende Produkt-Kategorie angezeigt bekam. Durch die aus den Produktkategorien generierten Umsätze finanzierten sich die Redaktionen.

Ich klickte alle Seiten durch, fand jedoch keine außergewöhnlichen Ergebnisse.
In Deutschland wurde die Tagesliste der Geflügelfarmen angezeigt, welche zum Sperrgebiet erklärt waren (Der Jahreszeit entsprechend waren es nur 5 Farmen in ganz Deutschland).
Durch die sich häufenden Fälle war Massentierhaltung verboten worden. Maximal 1000 Tiere, auf mindestens 10 Gebäude aufgeteilt, durften gehalten werden.
Auch für die anderen Länder waren die Meldungen eher normal. Schließungen von Farmen waren hier keine Meldung mehr wert. Die Sterblichkeit der Menschen lag inzwischen insbesondere in den armen Ländern ähnlich hoch wie bei Aids, da man bei privater Tierhaltung einfach keine absoluten Isolationsbedingungen und permanente Veterinärkontrollen aufrechterhalten konnte.
Besondere internationale Meldungen wie 100 % Sterblichkeit oder Übertragung durch die Luft gab es nicht. Aus den USA gab es nicht eine einzige neue Meldung.
Ich setze mir zur Kategorie Epidemien einen Alarm für neue Meldungen auf mein Handy.
Seltsam, dachte ich, ist Isabella doch durchgedreht? „Hast Du Isabella erreicht?“
Brigitte schüttelte entgeistert den Kopf. Ich habe Handy, Festnetz, R-Fax, Fax, E-Mail mit Lesebestätigung versucht. Nirgends bin ich durchgekommen.
„Okay, dann ist es ernst. Schicke das R-Fax von Isabella mit allen Sendeberichten an den Kategorienmanager für ,Epidemien’!“
Alles andere war für mich jetzt unwichtig. In der Kategorie Epidemien klickte ich jetzt auf Blog.
Tatsächlich fand ich einige ähnlich verstümmelte Meldungen wie von Isabella aus dem Ausland. Die ersten deutschen Kommentare taten diese Meldungen als Spinnerei ab. Ein Kommentator hatte eine passende Ausnahmezustandsmeldung im Internet gefunden und war so geistesgegenwärtig, den gesamten Text in den Kommentar zu kopieren.
Ich klickte die Quelle an und erhielt eine „Diese Website kann nicht angezeigt werden“ auf meinem Browser.
Anschließend begann ich in den USA verschiedene Seiten aufzurufen. Immer wieder kam der gleiche Fehler. Ich rief die Seite der US-Regierung auf, wieder keine Anzeige.
Anschließend rief ich die Seite der französischen Kategorienagentur für Schuhe ohne Probleme auf.
Seltsam, es waren fast 2 Stunden vergangen, warum hat der Kategorienmanager von „Epidemien“ noch nicht geantwortet.
R-Faxe von Kategorienmanagern wurden immer mit Vorrang angezeigt. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Kategorienmanagern, dass man sich nur anschrieb, wenn es wichtig war, dann aber sofort reagierte. Ich rief den Kollegen innerhalb der nächsten Stunde immer wieder an. Jedes mal kam sofort das Besetztzeichen. Trotzdem war dieses Zeichen für mich beruhigend, denn bei Isabella getätigte Anrufe wurden nicht einmal mehr mit einem Zeichen quittiert.
Da schrie Brigitte erneut aus. „Guck mal.“ Schnell war ich bei ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre R-Faxe angeschaut. „Neueingang 20.000“, stand hier. Von da an mussten sich Brigitte und ich wieder auf unsere eigene Arbeit konzentrieren und Standardmails entwickeln, um den Kunden zu erklären, warum die Hersteller aus dem englischsprachigen Raum nicht mehr online waren.

Wenig später fiepte Brigittes Handy, einmal, dann immer wieder.
Normalerweise hätte Brigitte auch auf das Signal „Neue SMS eingetroffen“, reagiert.
Schließlich war es schon fast eine Besonderheit, wenn sie eine nicht autorisierte SMS erhielt. Wäre die SMS durch die Achtcard autorisiert gewesen, so wäre sie nicht auf dem Handy von Brigitte als SMS angekommen, sondern da wo derzeit die Achtcard von Brigitte eingesteckt war als R-Fax – im PC eben.
Als Semantikmanagerin hätte Shaona eine hohe Priorisierung gehabt.
Brigitte hätte sich trotz der 20.000 weiteren R-Faxen direkt um Shaona gekümmert.

So stand Brigitte nur nach einer Stunde auf, um das ständige Gefiepe abzustellen. 500 SMS waren inzwischen von verschiedensten Absendern eingetroffen.
„Alles Spam, wer soll dem denn glauben?“, murmelte Brigitte und stellte den Klingelton leise.

Kommt die erste Echtzeitsuchmaschine aus den USA?

(von Olaf Berberich)

Aktuell nimmt – für mich unverständlich – die Aufgeregtheit um Real Time Web oder die Internetsuche in Echtzeit zu. Siehe hierzu http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/facebook-intensiviert-schlacht-gegen-google;2443762
Wie schon so oft, wird den Geldgebern mit dem altbewährten Werbegeschäftsmodell ein großer Kuchen schmackhaft gemacht, der dadurch nicht größer wird, dass man ihn mehrfach anbietet.
Für mich verstärkt sich die Tendenz des Wahns, alles was technisch machbar und leicht erklärbar in einen Geschäftsplan geschrieben werden kann auch umsetzen zu müssen, zumindest in den USA. Der Rest der Welt lässt diese Entwicklung dann einfach über sich ergehen.

Natürlich ist Twitter ein interessantes Konzept, welches insbesondere im Iran der Opposition genutzt hat, um auf sich aufmerksam zu machen, allerdings genauso von den Regierungskräften benutzt werden kann, siehe www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,630845,00.html .
Wenn jetzt aber Twitter mit seinen unüberprüften Informationen danach strebt, zentrales Zugangsportal für alle zu werden und mit einer Echtzeitsuche dafür sorgt, dass alle weltweit zur gleichen Sekunde die gleiche Information sehen, dann wird den Manipulatoren im Internet eine neue große Tür aufgemacht.

In meinem Buch „7/11: Insiderstory des Wandels in Deutschland von 1999 – 2015“ schildere ich genau so ein Szenario. Stellen Sie sich vor was passiert, wenn überall gleichzeitig die falsche Information auftaucht: „100% Sterblichkeit bei Schweinegrippe“.

Seriöse Journalisten werden in naher Zukunft möglicherweise nicht mehr wahrgenommen, weil Zeitungen im globalen Werbemarkt nicht mehr existieren können.
Journalisten verlieren auch immer mehr an Bedeutung, wenn niemand mehr überprüft, wer arbeitet professionell und ist an der Wahrheit interessiert und wer manipuliert.
Echtzeit bedeutet, dass nicht die wahre Information gewinnt sondern die schnellste.
Es ist gut, dass es Twitter und andere gibt und der Flugzeugabsturz im Hudson-River fotografiert werden konnte, aber es ist schlecht, wenn in absehbarer Zeit niemand mehr da ist, der – permanent als seriös wahrgenommen – solche Ereignisse bewertet.

Die Reflektion gesellschaftlich nachhaltiger Konzepte bleibt auf der Strecke. Gute über Jahrhunderte gewachsene und optimierte Strukturen werden nicht etwa auf das digitale Zeitalter angepasst – was mit funktionierenden Geschäftsmodellen möglich wäre – sondern durch Innovationswahn und USA-Gläubigkeit einfach vom Tisch gewischt.

Die erste mir bekannte Echtzeitsuchmaschine im Internet wurde am 9. Juni 1999 in Krefeld, Deutschland zum Patent angemeldet. In Echtzeit kann eine Sucheingabe analysiert und die passende Partnerdatenbank eines Trusted Partners – z.B. einer Zeitung aufgerufen werden und hierhin der Suchbegriff übergeben werden. Genau in dem Moment, in dem ein Zeitungsredakteur eine Meldung in seiner Zeitung veröffentlicht, kann diese auch über diese zentrale Sucheingabe gefunden werden – natürlich nur dann, wenn ausreichend Partner im System eingebunden sind.
Über ein Geschäftsmodell, welches den gewachsenen Strukturen Rechnung trägt und nicht den Werbemarkt kannibalisiert, wäre das Überleben vorhandener Contentanbieter, Einzelhändler und Dienstleister zu gewährleisten, wenn diese sich auf ihr Spezialgebiet innerhalb eines Synergienetzwerks konzentrieren würden.
Nur die Sache hat einen Haken, die Entwicklung kommt aus Deutschland. Und hier passieren einem wirklich unglaubliche Dinge. Aber das ist eine ganz andere Geschichte…

Fakt ist, nach nunmehr 10 Jahren sind wir des Einzelkämpferdaseins müde. Die getTIME.net GmbH, deren Geschäftsführer ich bin, wird ihren Fokus ab Herbst auf neue Geschäftsfelder richten, die leichter zu bearbeiten sind, als ein Markt, in dem Nachhaltigkeit und ganzheitliche Konzepte gegenüber der Versprechung von schnellem Geld und Einfluss über möglichst viele Nutzer keine Chance haben.

Vielleicht stimmt es ja doch: Die erste Echtzeitsuchmaschine kommt 2009 aus den USA?!

Chaos -Manhattan, New York – 11. Juli 2011, Kapitel 41, Teil II

Isabella Talik saß in ihrer lichtdurchfluteten Wohnung. Es war ein heißer Sommertag. Die Wohnung war früher eine Fabrikationshalle gewesen. Sie befand sich im 8. Stock mitten in Manhattan. Durch die Fenster drang gedämpft der Straßenlärm herein.
„Eigentlich solltest du in deinem Zustand nicht mehr arbeiten“, sagte Lena und trank ihre Tasse aus.
„Ich bin doch nicht krank, ich bin doch nur ein bisschen schwanger“ antwortete Isabella und streichelte sich über ihren nicht übersehbaren Bauch.
„Wann lässt sich denn der Vater blicken?“
„Der Vater hat einen Namen, wie Du weißt. Levis arbeitet hart für sein Geld als Taxifahrer. Ich hoffe, er kommt gegen Abend.“
„O.k., Du weißt, ich werde nie verstehen, wieso Levis sein Jurastudium nicht fertig gemacht hat. Schätzchen, ich muss jetzt gehen, vielen Dank für den Tee.“
Plötzlich hatte sie es eilig. Irgendwie trug sie ihrer besten Freundin Isabella immer noch nach, dass ihr Isabella Levis ausgespannt hatte. Obwohl, wenn sie zu sich ehrlich war, Ansprüche an Levis hatte sie zu keiner Zeit gehabt.
„Ruf mich an, wenn Du mich brauchst.“ Lena war schon an der Tür, als ihr Handy klingelte. Schlagartig veränderte sich ihre Haltung. Erst straffte sich ihr Körper und sie wurde ganz der Profi, der knapp Fragen stellte, dann sackte sie in einer Weise zusammen, wie Isabella es an ihr noch nie gesehen hatte. Sie strahlte blankes Entsetzen aus. Nach einem kurzen „Danke, ich gehe gleich ins Internet“, legte sie auf.
„Isabella, kann ich mal Deinen Computer benutzen?“
Die Antwort nicht abwartend setzte sie sich an Isabellas Arbeitsplatz und tippte www.via-planet.com in den Internetbrowser. Die http://www.via-planet.com/ war inzwischen in den USA die meistbesuchte Seite, wenn es um Informationen zu international auftretenden Krankheiten ging. Auf dem Gesundheitsportal konnte man seine eigene Stadt hinterlegen und bekam auch tagesaktuelle Grippe- und Allergiemeldungen aus der eigenen Region.
Auf der Homepage erschien folgende Meldung in großen Lettern:

  • Ausnahmezustand wegen Vogelgrippe

    Vor 2 Tagen ist in New York eine besonders bösartige Mutation von H5N1 ausgebrochen.

    Folgende besonderen Eigenschaften weist der Virus auf:
    – 100% Sterblichkeit bei Infektion
    – sofortige Übertragung über die Luft bei Annäherung an infizierte Personen

    Ein wirksamer Impfstoff liegt am Airport Kennedy Parkplatz 12, Stellplatz 324 in einem Ausgabe-LKW der Firma Ryman Ltd. für Sie bereit.

    Nur Personen sind empfangsberechtigt, welche sich online einen Berechtigungsschein ausgedruckt haben,
    Folgende Maßnahmen sind sofort angeordnet:

    1. Personen, welche heute
    nach Einbruch der Dunkelheit
    – oder ohne Berechtigungsschein
    – oder an einem anderen Platz als an ihrem Übernachtungsplatz (Privat oder Hotel)
    angetroffen werden, können vom Militär ohne Vorwarnung erschossen werden.
    Drucken Sie sich schnellst möglich online ihren Berechtigungsschein für das Gegenmittel aus.
    2. Ab morgen 8.00 Uhr gilt für 14 Tage eine totale Ausgangssperre. Dies ist die einzige Möglichkeit um die Ausbreitung zu verhindern.
    3. Die Ausgangssperre gilt auch für alle Polizei- und Hilfskräfte.
    4. Telefonieren oder Benutzen der Internetleitung für weitere Informationsbeschaffung ist unter strengste Strafe gestellt. Nur so kann ein völliges Zusammenbrechen der Telekommunikations-infrastruktur verhindert werden.
    5. Sobald die Krise vorbei ist, werden Sie informiert.
    6. Es muss noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass auch für Personen in Not der Schießbefehl gilt. Essensbeschaffung oder Beschaffung von Medizin gelten nicht als Ausnahmen. Soldaten werden Lebensmittel und Trinken austeilen.
    7. Da wir nicht in der Lage sind, alle Soldaten mit der an die Situation angepassten Schutzkleidung auszustatten, wird die Annäherung an Militär, Polizei und Hilfskräfte näher als 50 Meter als aggressiver Akt gewertet, der den Gebrauch der Schusswaffe rechtfertigt.

    Benutzen Sie zur Registrierung nur den für Sie speziell generierten Link: www.heimatschutz.us/ausnahmezustand/978696986585

    Sollte ihnen kein Link angezeigt werden, ist die IP-Adresse ihres Computers nicht registriert. Benutzen sie zur Registrierung einen uns bekannten Computer.

    Bewahren Sie Ruhe.

    Überleben Sie

    Oskar Miller
    (Präsident des Heimatschutzes)

  • „Das kann doch gar nicht sein!“
    Isabella schubste Lena von ihrem Arbeitsplatz und klickte, ehe Lena es verhindern konnte, auf den Link des Heimatschutzes, der neben der Meldung angegeben war.
    Es erschien die offizielle Seite des Heimatschutzes mit genau dem gleichen Text.

    „Isabella, bist du wahnsinnig, kannst Du nicht lesen, wir müssen schnellstens zum Flughafen, Du begehst eine Straftat, wenn du weiterklickst.“
    Doch Isabella ließ sich nicht beirren. Mit ungeheurer Geschwindigkeit tippte sie ein R-Fax an Frederichs. Die Schlüsselseite ihrer Achtcard steckte noch im Schlitz:
    „Notstand, Vogelgrippe, 100 % Sterblichkeit, Übertragung durch die Luft, bitte bestätigen!“
    An der Zeit, die das System brauchte, diese kurzen Zeilen abzuschicken, merkte Isabella, dass das Netz kurz vor dem Zusammenbrechen war. Gleichzeitig registrierte sie, dass der Straßenlärm erheblich zugenommen hatte. Sie hörte wildes Hupen und das Zusammenkrachen von mehr als zwei Autos. Verrückter Weise hatte irgend eine Ecke ihres Verstandes noch Zeit, sich über die Formulierung „Benutzen Sie einen uns bekannten Computer“ zu amüsieren.

    Über 40 Minuten dauerte es, bis sie für Lena, sich und ihren Freund Levis die Bestätigungen ausgedruckt hatte.
    Als sie noch einmal versuchte, die Homepage des FINDERS-Konsortiums aufzurufen, bekam sie nur eine Timeout Meldung.
    „Nun komm endlich.“ Lena zerrte an ihr. „Lass den blöden Internetscheiß.“

    Plötzlich brach Isabella der Schweiß aus.
    „Hast du Wehen?“, fragte Lena besorgt.
    „Ich habe die Berechtigung für Levis ausgedruckt“, schrie Isabella los. “Was, wenn wir Levis nicht finden. Dann bekommt er keine Berechtigung.“
    Einige Sekunden wurde es still, dann sagte Lena mit einer neuen Entschlossenheit: „Dann müssen wir ihn eben finden, jetzt aber los. Wir haben 10.00 Uhr morgens. Mit dem Fahrrad bis zum Airport Kennedy sind 18 Meilen. Dann wieder zurück. Das wird verdammt knapp.“

    Langsam erst wurde auch Isabella annähernd klar, was ihnen bevor stand.

    Der Apotheker – John F. Kennedy Airport – 11. Juli 2011, Kapitel 40, Teil II

    Am 11. Juli war Ryman um 9.00 Uhr wie vorgesehen am Parkplatz. Fast 30 Minuten musste er warten, bis er unbemerkt durch die Luke in den Wertraum einsteigen konnte. Kurz vorher hatte er die Folie von den Ausgabeautomaten gezogen.
    Er nahm eine dicke Metallplatte und hob sie beim ersten Seitenfenster in die vorgesehenen Führungen. Auf der Rückseite der Metallplatte war ein Speichenrad ähnlich wie bei einem Tresor angebracht. Ryman drehte das Speichenrad, bis rings um die Metallplatte Riegel in die Befestigungen der Seitentür eingerastet waren. Er wiederholte den Vorgang für das Beifahrerfenster und die Frontscheibe. Nun saß er sicher wie in einem Tresor.

    Die länglichen Kartons mit jeweils 500 Packungen waren an zwei Seiten perforiert. An der schmalen oberen Seite, ließ sich der gesamte Deckel abziehen. An der Unterseite drückte Ryman die Perforation ein. Es entstand ein Loch, das gerade so groß war, dass eine einzelne Packung hindurchfallen konnte.
    Er steckte auf jeden der 30 Schalter in die entsprechende Vorrichtung einen geöffneten Karton.

    Ryman saß im Wertraum und wartete.
    Gemäß Anweisung sollte er um Punkt 10.00 Uhr über eine Taste die LED-Anzeige anschalten und jedesmal, wenn ein Karton leer war, einen neuen einschieben.
    9.45 Uhr
    Es war absolut still. Endlich hatte Ryman nach all dem Stress der letzten Tage ein wenig Zeit, nachzudenken.
    Was machte er eigentlich hier? Wer um Himmels Willen sollte bei ihm Medikamente abholen?
    Ryman beruhigte sich damit, in dem versuchte, sein Handeln aus dem Blickwinkel eines Juristen zu betrachten. Er stand nicht einmal im Parkverbot. Der Wagen war nicht geklaut. Er kannte kein Gesetz, dass ihm verbot, die Fenster mit Metallplatten zu sichern. Die Ladung hatte er mit offiziellen Papieren durch den Zoll gebracht.

    Plötzlich begann er zu schwitzen. Panisch riss er eine Packung auf und probierte eine Tablette. Er kannte sich mit Drogen nicht aus, aber er schwor sich, in dem Moment, in dem er eine Wirkung verspüren würde, würde er sofort aussteigen.
    Pleite war immer noch besser als Knast. Aber er spürte keine Veränderung.

    Dann hörte er Geräusche. Es waren Menschen. Es waren viele Menschen. Jemand rappelte an der Tür.
    Ryman fiel plötzlich ein, dass er die LED-Anzeige anmachen musste.
    Sofort klackten die Ausgabeschalter. Der erste Geldsack blähte sich durch einen Windzug auf. Im Karton wackelte es. Die erste Medikamentenschachtel fiel aus dem Karton nach.
    Auf einem kleinen LED-Feld, welches er vorher nicht bemerkt hatte, erschien eine „1“.
    Sofort gab es wieder diesen Windzug. Der nächste Schalter arbeitete. Das Display zeigte eine „2“. Plötzlich begannen alle Schalter zu arbeiten.
    Ryman kam nicht weiter zum Nachdenken. Servicebewusstsein lag ihm in Fleisch und Blut. Er ärgerte sich, dass er nicht vorher weitere Kartons geöffnet hatte. Dann hätte er noch schneller ausliefern können.
    Eher im Unterbewusstsein registrierte er die zunehmende Anzahl der Stimmen draußen. Wo kamen nur all die Menschen her?

    Weisungsgemäß hatte er nach 21.00 Uhr mehrere Pausen eingelegt. In der ersten Pause hatte er die Luke aufgeschlossen. Was er nun hörte, gefiel ihm gar nicht. Die Stimmen klangen absolut panisch. Den ganzen Tag waren je Schalter ca. 30 Medikamentenschachteln je Minute ausgegeben worden. Er war fast permanent damit beschäftigt, die Perforierung abzureißen und Kartons auszutauschen. Jedes mal, wenn ein Schalter leer war, wurde kräftig am LKW geklopft. Inzwischen füllte sich der Werteraum mit den leeren Kartons.
    In der zweiten Pause benutze er ein Spezialwerkzeug, um den unter der Luke liegenden Gullydeckel zu öffnen.
    Er dauerte länger als erwartet. Viele Schalter liefen leer. Der Laster wackelte immer heftiger, was Ryman die Arbeit auch nicht erleichterte. Schnell schob er die nächsten Kartons in die Schalter.
    Jedes mal, wenn ein Geldsack voll war, wurde der Sack automatisch plombiert und von hinten klappte der nächste Sack nach vorne. In weiteren Pausen warf er gefüllte Geldsäcke durch das Gullyloch.

    Um 22.00 Uhr zeigte das LED-Display 499.994 an. Er hatte alle Medikamente ausgegeben.
    Sofort ging das Rütteln wieder los. Gerade rechtzeitig erinnerte sich Ryman daran, eine weitere Taste zu drücken. Und tatsächlich, das Rütteln hörte auf.
    Was er nicht sehen konnte war, dass sich nach dem Betätigen der Taste der Anzeigetext veränderte. Anstelle von „Es sind genügend Medikamente dar. Legen Sie eine 100 Dollarnote in den Geldschlitz, sie erhalten sofort das Medikament“, wurde ab sofort angezeigt: „Bitte bewahren sie Ruhe, Nachschub wird in wenigen Minuten angeliefert.“
    Ryman brauchte keine Anweisung, um zu wissen, dass er hier schnellst möglich verschwinden sollte. Gerade hatte er den Gullydeckel über sich zugezogen, da kippte der LKW über ihm um.

    Ryman musste mehrfach im engen stinkenden Schacht hin und herlaufen, bis er alle Säcke durch das neu gebrochene Loch in die Garage gebracht hatte, wo anstelle des Schalter-LKWs ein neutraler Auslieferungswagen von ihm geparkt worden war.
    Er brauchte fast 30 Minuten durch die Menschenmenge, bis er die ca. 150 Meter von der Garage bis zur Lieferanteneinfahrt des Flughafens geschafft hatte.

    Hier wurde immer hart kontrolliert. Er öffnete einen weiteren Umschlag und fand die Frachtpapiere für die Geldsäcke. Richtigerweise war hier ausgefüllt: „Geldeinnahmen aus Medikamentenverkauf“. Als Empfänger war Human International Ltd. Liechtenstein via Hongkong angegeben.
    Zu seiner Überraschung gab es am Frachttor überhaupt keine Kontrolle. Der Schlagbaum lag unten. Das Wachhaus war leer. Das hatte es noch nie gegeben, was war hier los?
    Ryman öffnete die Schranke, fuhr in den Flughafen und vergaß nicht, die Schranke wieder zu schließen.

    Die Frachtmaschine von IPC hatte schon ihre Turbinen gestartet. Kurz nachdem die Geldsäcke verladen waren, startete die Maschine nach Hongkong.

    Ohne darüber nachzudenken, warum er diese ungewöhnliche Entscheidung traf, beschloss Ryman diese Nacht im Büro seines Lagers auf dem Flughafengelände zu verbringen.
    Irgend wo musste doch noch ein alter Schlafsack sein.
    Erst da merkte er, dass seine Kleidung noch immer nassgeschwitzt war.

    Offener Brief an Herrn Dr. Appel, Vorstandsvorsitzenden der Post AG

    Sehr geehrter Herr Dr. Appel,

    in der Presse habe ich über das neue Zukunftsprojekt der Deutschen Post gelesen, den digitalen Brief einzuführen und damit die Kosten zu minimieren.

    Grundsätzlich ist dies der Weg in die richtige Richtung, leider aber viel zu halbherzig. Entschuldigen Sie meine offenen Worte, aber ich verstehe nicht, wieso in Deutschland immer wieder Insellösungen eingeführt werden und niemand mehr fragt, was der Kunde eigentlich an nachhaltigen Konzepten vom jeweiligen Unternehmen erwartet.

    Auch gibt es zahlreiche technische Lösungen zu sicheren E-Mails. Die digitale Signatur wird nun fast ein Jahrzehnt entwickelt. Durchgesetzt haben sich diese Systeme nicht.
    Schon viele große Firmen habe ihren digitalen Einfluss überschätzt und gingen automatisch davon aus, dass sie die Offline – Größe des Unternehmens 1/1 auf den Onlinebereich übertragen können. Karstadt ist hier nur ein aktuelles Beispiel, dass es so einfach nicht geht.

    Stellen Sie sich vor, Sie gehen eines Morgens zu Ihrem Lieblingsgeschäft und hier hängt plötzlich ein Schild an der Tür: „Eintritt nur für Menschen unter 45 Jahren erlaubt“.

    Genau dass haben Sie vor. Die Post ist für alle da. Immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung wird auch die nächsten Jahrzehnte skeptisch gegenüber dem Internet bleiben. Wenn Sie jetzt die Hürde für Kunden immer höher schrauben, damit diese Ihre Dienstleistungen nutzen, werden Sie nicht Kosten sparen, sondern Kunden verlieren.

    Zudem erhöhen Sie den Spagat, den Unternehmen heute schon mit Unified Messaging bei Fax, Mail, SMS und Briefen leisten müssen, um ein weiteres System. Anbieter wie der Ulmer Postdienstleister DIREKTexpress bieten digitale Briefe schon an. Jeder benutzt sein eigenes Akkreditierungsverfahren. Im Ergebnis steht für alle Beteiligten ein erheblicher Mehraufwand, welcher Rationalisierungsvorteile der Digitalisierung auffrisst.

    Helfen würde nur ein harter Einschnitt und der Ersatz der Briefe durch eine digitale Alternative für alle.
    Eine solche Alternative haben wir bereits 2000 konzipiert. Seit November 2008 ist das Buch „7/11: Insiderstory des Wandels in Deutschland“ im Buchhandel. Hier kann man unterhaltsam beschrieben nachlesen, wie ein 90-jähriger mit 5% Sehkraft mit der für alle verfügbaren digitalen Alternative zum Brief klarkommt.

    Im Februar 2009 habe ich auch Ihnen dieses Buch zugeschickt. Leider gehören die Post zu den wenigen, die sich nicht mit dem Buch beschäftigt haben. Jedenfalls habe ich keine Antwort auf meine Zusendung erhalten, obwohl die nachhaltige Perspektive für die Post AG den Kern dieses Buches ausmacht.

    Ich befürchte, heute sind nur noch kurzfristig wirkende Sparmaßnahmen in Mode, weil man hier nicht viel falsch machen kann. Gerade in der Wirtschaftskrise sind mutige Schritte zu einer nachhaltigen Zukunft jedoch überlebensnotwendig.
    Nur wenn die Post alle Zielgruppen in die digitale Zukunft mitnimmt, wird die Post mit einer zu heute vergleichbaren Anzahl an Kunden überleben.

    Vielleicht trägt dieser offene Brief ein wenig dazu bei, dass eine Diskussion über die Zukunft der Post in Gang kommt.

    Wir müssen verhindern, dass breite Teile der Bevölkerung in Zukunft benachteiligt werden, indem sie von der Informationsgesellschaft abgeschnitten werden und insbesondere im Alter ihre Mobilität und Selbständigkeit erheblich eingeschränkt wird.
    Denn die Post ist für alle da, egal ob als Brief oder auf digitalem Weg, sie ist ein Stück unserer Lebensqualität.

    Olaf Berberich

    Parkprobleme – John F. Kennedy Airport – 10. Juli 2011, Kapitel 39, Teil II

    Um 10.00 Uhr war Ryman wieder in der Garage mit dem Spezialfahrzeug. Auf den ersten Blick sah das Fahrzeug unverändert aus. Allerdings war – wie auf der Anweisung erwähnt – über Nacht die Fahrertür ebenfalls zugeschweißt worden.
    Ryman kroch unter den Wagen und schloss die kreisrunde Luke zum Wertraum auf. Er kroch hindurch und schloss die Luke wieder von oben.
    Anschließend startete er nach verschiedenen Bemühungen endlich den alten Diesel. Die Schaltertechnik und Panzerung des Wagens war vom Feinsten. Der Rest war so altersschwach, dass er fürchtete, die 300 Meter, welche er mit dem LKW zurücklegen sollte, nicht zu schaffen.
    Er sollte nur um zwei Ecken fahren und hier an einer bestimmten Stelle parken.

    Als Ryman den vereinbarten Parkplatz erreichte, war dieser besetzt. Vier mal fuhr er wieder in die Garage. Nach jeweils 30 Minuten fuhr er wieder los. Wieder war der Parkplatz nicht frei.
    So komme ich nicht weiter, dachte Ryman. Ich soll auf keinen Fall auffallen. Und dieser Wagen fiel wirklich auf, auch wenn die Ausgabeschalter mit einer Folie zugeklebt waren.

    Also ging Ryman erneut zu Fuß los.
    Auf dem Weg kam er an einer Obdachlosen vorbei. Da kam ihm eine Idee.
    „Wollen Sie sich 50 $ verdienen?“
    Die Frau war so schmutzig, dass ihr Alter schwer bestimmbar war. Sie erhob sich und hielt sich mit gläsernem Blick an einem Einkaufswagen fest, der alles beinhaltete, was sie besaß.
    „Ficken is nich“, sagte sie.
    Ryman schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Sie haben mich völlig missverstanden. Ich suche einen Parkwächter für maximal 2 Stunden.“
    „Parkwächter, ich bin doch gar nicht passend angezogen?“
    Offenkundig hatte auch diese Frau einmal bessere Zeiten erlebt.
    „Kommen Sie einfach mit.“
    Er zog sie eine Ecke weiter. Sie folgte ihm, ohne ihren Einkaufswagen auch nur einen Augenblick aus dem Auge zu lassen. „Ich brauche genau hier einen Parkplatz.“
    Zu seiner großen Freude wurde der Parkplatz, auf dem er den LKW positionieren sollte, gerade frei.
    Doch schon machte ein schwarzer Porsche Anstalten, einzuparken. Konnte der nicht lesen? Ein Schild wies den Parkplatz eindeutig als LKW-Parkplatz aus.
    Sofort setzte sich die Frau mit ihrem Einkaufswagen mit einer Geschwindigkeit in Bewegung, die man ihr gar nicht zugetraut hätte.
    Der Porschefahrer haute den Rückwärtsgang rein und fuhr mit quietschenden Reifen zurück.
    Er hatte wohl schon schlechte Erfahrungen mit einem bestimmten Typ Einkaufswagen schiebender Menschen gemacht.
    Sie war die Richtige. Ryman zeriss einen 50 Dollar Schein.
    „Die zweite Hälfte, wenn ich eingeparkt habe.“ Sie nickte.

    Ryman beeilte sich, wieder zur Garage zu kommen. Wieder musste er unten durch die Luke. Das war schon ganz schön anstrengend.
    Der Diesel sprang wider Erwarten direkt an.
    Nachdem er den LKW vor die Tür gefahren hatte, musste er wieder durch die Luke nach draußen, um die Garagentür zu schließen.
    Zum Glück sah ihn niemand.

    Er erreichte den Parkplatz, den die Obdachlose mit ihrem Einkaufswagen in Besitz genommen hatte, innerhalb weniger Minuten. Als er einparken wollte, sprang sie sofort auf und schob energisch den Einkaufswagen gegen den LKW. Erst als Ryman langsam weiterfuhr und vorsichtig den Einkaufwagen zurückschob, sah sie auf und gab endlich den Platz frei.
    Einige Male musste Ryman vor und zurücksetzen, bis der LKW an der richtigen Stelle stand.
    Ryman blieb sitzen, um sicherzustellen, dass niemand den Laster beobachtete.
    Die Parkwächterin wurde nervös. Warum machte er nicht die Tür auf? Zu oft war sie in ihrem Leben bereits betrogen worden. Irgend etwas sagte ihr, es gab einen Trick, dass sie doch kein Geld bekam. Als Ryman dann auch noch nach hinten in dem Wagen verschwand, fuhr sie den Einkaufswagen gegen den LKW.
    Plötzlich stand Ryman neben ihr.
    Wie war er aus dem LKW gekommen?
    Ryman legte den Zeigefinger an den Mund. „Psst, top secret. Ich habe immer in meinem Leben für gute Arbeit gutes Geld gezahlt.”

    Als sie den zusätzlichen 20er in Händen hielt, bekamen ihre Augen plötzlich ein Glitzern. Ihre Haltung wurde aufrecht. Lange war es her, dass sie gelobt worden war.

    Sie merkte, Ryman hatte es ernst gemeint.

    Der erste Auftrag – John F. Kennedy Airport – 9. Juli 2011,Kapitel 38, Teil II

    Dem Vertrag beigefügt war eine genaue Anweisung, was er für den Kunden durchzuführen hatte.
    Zuerst wartete er auf die Frühmaschine von IPC aus Hongkong.
    Die Frachtmaschine landete pünktlich um 8.30 Uhr.
    Ryman überprüfte die Fracht besonders gründlich. Angegeben waren 500.000 Packungen Grippemedikamente, Auslieferung an die Firma Human International Ltd. in New York.
    Er öffnete einige Kisten. Er hatte schließlich keine Lust, beim Zoll eine böse Überraschung zu erleben. Doch auf alle Paletten entsprach die Ware den Frachtscheinen.
    Ryman war noch immer nicht zufrieden. Er errechnete das Frachtvolumen bei Berücksichtigung von Packungsgröße und Anzahl. Auch hier entsprach die Frachtmenge den Angaben der Zollpapiere.

    Die Fracht wurde in einem LKW von Ryman Ltd. umgeladen. Beim Zoll gab es keine Beanstandungen.
    „Geht’s euch jetzt schon so schlecht, dass Ihr Medikamente mit VIP-Service liefert?“
    Der Zollbeamte wusste offensichtlich nichts davon, dass Ryman Ltd. geschluckt worden war.
    „Man nimmt, was man bekommt“, antwortete Ryman.

    Er fuhr gemäß Vorgabe zu einer großen Garage in unmittelbarer Nähe zum Liefereingang des Flughafens. Mit dem Schlüssel, den er zusammen mit der Fracht erhalten hatte, öffnete er die Garagentür und fuhr den LKW herein.
    In der Garage befand sich ein zweiter LKW mit der Aufschrift Ryman Ltd.. Was sollte das, das war keiner von seinen Wagen.
    Er betrachtete den Wagen genauer und sah, dass der Wagen auf drei Seiten mit insgesamt 30 Ausgabeautomaten ausgerüstet war.
    Auf dem Dach des Wagens gab es ein LED-Anzeigeband.

    Er bestieg den Wagen durch die nicht abgeschlossene Fahrertür. Direkt fiel ihm auf, dass die Beifahrertür zugeschweißt war. Er ging in den hinteren Bereich. Ungewöhnlich war eine Luke im Boden des hinteren Wertraumes. Außer der Fahrertür und der zugeschweißten Beifahrertür hatte das Fahrzeug keine weitere Tür. Im Inneren hing unter den Ausgabeschaltern jeweils ein großer Geldsack.

    Ryman las die auf dem Beifahrersitz liegenden weiteren Anweisungen. Er konnte nichts Ungesetzliches erkennen und er musste zugeben, man hatte alles für seine Sicherheit getan. Sorgfältig steckte er sich 5 Packungen des Grippemittels ein. Diese Menge hatte man ihm zugestanden.

    Anschließend benötigte er einige Stunden, um umständlich durch die Fahrertür die Medikamente in das Spezialfahrzeug einzuladen.

    Die Nacht schlief er sehr unruhig in der ohne seine Frau viel zu großen Wohnung.

    Konkurrenten – John F. Kennedy Airport – 8. Juli 2011, Kapitel 37, Teil II

    Peter Ryman stand auf der Rampe vor dem Lager der Ryman Ltd. im Zollbereich des Flughafens. Frustriert sah er auf das Firmenschild, welches man aus für ihn unerfindlichen Gründen noch nicht entfernt hatte.

    Bis vor 18 Monaten war er Inhaber dieser Firma gewesen. Die letzten Jahre hatten keinen Spaß mehr gemacht. Seit 2008 plötzlich aus dem nichts International-Planet-Cargo auftauchte und in über 100 Flughäfen den angesiedelten Auslieferunternehmen für hochwertige Frachten Konkurrenz machte, war der Preiskampf mörderisch geworden. Dann noch die Wirtschaftskrise, das war zuviel.
    International-Planet-Cargo lieferte nicht nur aus, sondern hatte auch eigene Frachtflugzeuge. Die Mitarbeiter für das Aus- und Einladen flogen mit den Flugzeugen mit und arbeiteten beim Be- und Entladen zu konkurrenzlosen Preisen.
    Da sie nie in die USA einreisten, sondern sich nur im Zollbereich aufhielten, unterlagen ihre Arbeitsverhältnisse nicht den hiesigen Auflagen.
    Heute wusste Ryman, dass diese Arbeiter oft illegal die Frachtflugzeuge zum Übernachten benutzten, wenn das Flugzeug nicht am gleichen Tag zum Verteiler in Hongkong zurück flog.
    Aber heute gehörte er selbst zur IPC-Gruppe, wie International-Planet-Cargo abgekürzt hieß.

    Vor fast 18 Monaten war Ryman Ltd. in die Insolvenz und anschließende Zwangsversteigerung gegangen.
    Natürlich konnte IPC die Ryman Ltd. zu einem konkurrenzlosen Preis übernehmen. Wer hatte in dieser Situation schon Lust, gegen den internationalen Marktführer anzutreten.
    Weisenmüller, der CEO von IPC, war so großzügig gewesen, ihm anzubieten, für einen Zeitraum von 18 Monaten in seiner ehemaligen Firma den Job als Geschäftsführer anzunehmen.
    Was sollte er machen. Er hatte schließlich alles Geld in seine Firma gesteckt. Die private Pleite war kaum noch abzuwenden. Also nahm er mit Fäusten in der Tasche an.
    Nun würde er Ende der Monats wohl endgültig auf der Straße stehen.
    Ein neuer LKW kam und riss ihn aus seinen Gedanken. Für ein Museum wurden vorsichtig kostbare Bilder umgepackt. Solche Aktionen hatte er schon immer persönlich überwacht.
    Gerade als der Lastwagen die Ladeluke schloss und die Frachtpapiere unterzeichnet waren, klingelte das Telefon.
    „Ryman.“
    „Hallo Mr. Ryman, hier ist Weisenmüller, wie geht es Ihnen und Ihrer Familie.“
    Was sollte das, wusste Weisenmüller, dass seine Frau nach der Insolvenz direkt ihre Koffer gepackt hatte und das sinkende Schiff verlassen hatte? Wollte er sich jetzt auch noch über ihn lustig machen?
    Ryman beschloss, sich nicht provozieren zu lassen. „Was kann ich für Sie tun, Mr. Weisenmüller?“
    „Nun, bei uns hat sich in den letzten Monaten einiges getan. Wir haben gerade den Bericht einer Unternehmensberatung für eine Umstrukturierung vorliegen und könnten uns vorstellen, Sie unter gewissen Umständen wieder zum Haupteigentümer von Ryman Ltd. zu machen.“
    Innerlich lachte Ryman auf. Dann stimmten also die Gerüchte, welche er von dem in Los Angeles ebenfalls von IPC übernommenen Unternehmer gehört hatte. Danach hatte IPC sich mit einer zu schnellen Expansion übernommen.
    „Einverstanden, wann wollen wir uns treffen?“
    „Ehrlich Mr. Ryman, ich bin derzeit sehr im Stress. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen die Vertragsunterlagen zur Rückabwicklung Ihrer Firma schicke und wir dann noch einmal telefonieren? Übrigens, wir sind Geschäftsleute, Mr. Ryman. Wir haben einen extrem wichtigen Auftrag angenommen, hier erwarten wir Ihre Hilfe. Es steht eine Krise bevor. Wir sind offiziell beauftragt, Medikamente auszuliefern. Mehr darf ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen.“
    „Also illegal oder ein Himmelfahrtskommando?“
    „Weder das eine noch das andere. Ihr Auftrag wird vertraglich vereinbart. Wir übernehmen die volle Verantwortung und bestätigen Ihnen, dass wir alle nötigen Genehmigungen für diese der Situation entsprechend außergewöhnliche Aktion vorliegen haben. Und zum Thema Himmelfahrtskommando können Sie mir glauben, Menschen, welche das Medikament nicht rechtzeitig erhalten, sind wesentlich schlechter dran als Sie. Wir haben alle nur erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen für Sie getroffen. Es ist nur so, es geht um sehr viel Geld. Wir brauchen jemand, auf den wir uns 100 % verlassen können. Sie haben einen außerordentlich guten Ruf in ihrer Branche.“
    Das stimmte allerdings. Wenn er ein wenig mehr krumme Geschäfte, wie zum Beispiel einen Versicherungsbetrug, gemacht hätte, hätte er sicher seine Firma nicht verloren.
    „Ich kann mir die Verträge ja mal ansehen“, sagte Ryman immer noch skeptisch.
    Wenig später erhielt er die Verträge als Anhang an eine E-Mail.
    Er konnte wirklich keinen Haken an den Verträgen entdecken.
    Sie schienen eindeutig zu seinen Gunsten formuliert. Was ihn störte, war der enorme Zeitdruck. Er musste sich noch heute entscheiden.
    Andererseits, was hatte er in seiner Branche nicht schon alles erlebt. Es war wirklich nicht ungewöhnlich, dass er nachts herausgeklingelt wurde, um irgend einen Gauguin vom Flughafen zu einem Sammler zu transportieren. Hierfür hatte er einen speziellen Geldtransporter.
    Ryman unterschrieb den Vertrag. Er nahm den Rest des Tages frei und machte ausführliche Einkäufe in New York.
    Mann konnte ja nie wissen.
    Insbesondere Wasser, Dosennahrung und was er sonst auch für einen längeren Urlaub eingekauft hätte kaufte er und deponierte es in seinem Lager.
    Er musste hierfür durch den Zoll, da ja sein Lager im Zollbereich lag.
    „Eigenbedarf?“, der Zollbeamte wirkte skeptisch.
    „Ständige Überstunden!“, stöhnte Ryman.
    Der Zollbeamte nickte mitleidig.

    Der versperrte Weg – Kanifinolhu, Malediven – 11. Juli 2011, Kapitel 36, Teil II

    Shaona war schon ganz aufgeregt. Seit 4 Jahren hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen. Vor 4 Jahren hatte sie ihnen einen Flug nach Friedrichshafen bezahlt. Obwohl sich ihre Eltern sehr gefreut hatten, sie zu sehen hatte Shaona gemerkt, wie schwer es ihnen gefallen war, in der fremden Umgebung zurecht zu kommen.
    Vorher waren sie über Male nicht hinausgekommen. Der 12 Stunden Flug gingen über ihre Vorstellungen.
    Umso mehr freute sich Shaona jetzt ihren Eltern Joan vorzustellen. Ein Urlaub auf Kanifinolhu würde ihnen bestimmt gefallen.

    Um ihre Eltern nicht zu irritieren hatten sie auf den Flug mit dem Wasserflugzeug verzichtet und sich einen Gleiter mit 2 x 100 PS Motoren gemietet, um ihre Eltern abzuholen.
    Das war der pure Luxus. Der Gleiter hatte sogar eine voll ausgestattete Kajüte.

    Nach mehreren Stunden Fahrt näherten sie sich endlich der Insel Dhunikolhu.
    „Siehst Du da, die Stelzenhäuser? Es ist alles noch wie früher“, rief Shaona begeistert.

    Auf einmal bog ein Schnellboot um die Insel. Seitlich stand in großen Buchstaben IH. Shaona wusste, dass dies das Zeichen von International Human, den Käufern der Insel, war.
    Vorne auf dem Bug war ein Maschinengewehr montiert.
    „Können die nicht aufpassen? Wenn die so weitermachen, rammen die uns noch“, rief Joan.
    Kurz vor einem Zusammenstoß stoppte das Schnellboot auf.
    „Drehen Sie sofort ab, diese Insel ist Privatgebiet“, kam über das Megafon herüber. Ein Mann besetzte das Maschinengewehr.
    „Das kann doch gar nicht sein. Ich habe gestern noch mit meinen Eltern telefoniert. Die hätten doch was gesagt, wenn es Probleme mit dem Abholen gäbe“, Shaona sackte in sich zusammen. Erst die Vorfreude auf das Wiedersehen und nun schien man sie gewaltsam von ihren Eltern fernhalten wollen.
    „Das ist bestimmt ein Missverständnis. Die müssen mit uns reden“, sagte Joan. Er nahm das Funkgerät und probiert alle Frequenzen durch. Aber weder jemand auf der Insel noch auf dem Schnellboot antwortete.
    Da machte Joan der Besatzung auf dem Schnellboot Handzeichen, dass er längsseits kommen wollte, um zu reden.
    Sofort fing das Maschinengewehr an zu rattern. Die Salve ging haarscharf vor dem Bug des Gleiters im Wasser nieder.

    Joan bekam Angst und drehte ab. Am Abend wieder auf Kanifinolhu angekommen, versuchte Shaona sofort, ihre Eltern anzurufen, sie bekam kein Freizeichen. Sie rief weitere Telefonnummern auf Dhunikolhu an. Alle Leitungen waren tot.
    Das einzige, was ihr noch einfiel, war Brigitte eine SMS zu schicken: „Irgend etwas stimmt bei Eltern nicht. Von Boot von Landung abgehalten. Keine Telefonverbindung. Was soll ich tun?“

    Vor Panik hatte Shaona ganz vergessen, ihre Achtcard ins Handy einzulegen. Wie empfohlen bewahrte sie die Karte diebstahlsicher vom Handy getrennt in ihrem Portmonee auf.

    Stundenlang fixierte Shaona ihr Handy und wartete auf eine Antwort von Brigitte, die doch immer weiter wusste.

    Aber Brigitte antwortete nicht.

    Urlaubsplanung – Friedrichshafen – Juni 2011, Kapitel 35, Teil II

    Endlich fühlte sie sich hier zu Hause. Shaona war glücklich.
    Das Telefon klingelte.
    „Shaona Magu“.
    „Hallo Shaona, schalte mal das Bild an“.
    Sie schaltete die Kamera des Bildtelefons an und sah Brigitte sich in einem roten Sommerkleid drehend. „Wie gefällt Dir das?“
    Brigitte war in der ganzen Zeit ihre einzige wirkliche Freundin in Deutschland gewesen. Schade nur, dass sie sich so selten sahen. Oft verbrachte sie den Urlaub bei den Frederichs.
    „Das Kleid steht Dir wirklich“, nach einer Pause: „Brigitte, bis Du glücklich?“
    „Nach all den Jahren ist der Lack schon ein wenig ab. Aber ja, ich glaube ich bin glücklich mit Ole.“
    „Ich bin sehr glücklich mit Joan. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man so glücklich sein kann.“
    „Bringst Du ihn in Deinem Sommerurlaub mit?“
    „Brigitte, ist es schlimm, wenn ich im Juli nicht zu Euch komme. Du weißt doch, ich habe seit Jahren vor mir hergeschoben, meine Eltern zu besuchen. Erst musste ich mich einarbeiten und dann ist Dhunikolhu verkauft worden. Ich habe früher immer davon geträumt, einmal als Tourist zurückzukehren und im besten Bungalow zu übernachten. Einen ganzen Urlaub in dem Apartment meiner Eltern zu übernachten, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Jetzt, jetzt möchte ich mit Joan.“
    „Du möchtest mit Joan bei Deinen Eltern übernachten?“
    „Nein, natürlich nicht. Ich möchte mit Joan auf einer 5 Sterne Insel 3 Wochen Urlaub machen. Meine Eltern möchte ich die letzte Woche einladen.“
    „Das freut mich für Dich. Aber im nächsten Urlaub stellst Du mir Deinen Joan vor. Versprochen?“
    „Versprochen.”