Compliance als Demokratie-Zerstörer?


Was ist nur in mich gefahren, auf die Compliance einzudreschen. Ist doch gerade die Compliance der Teil, der sich mit aller Kraft dafür einsetzt, ethische Regeln im Unternehmen durchzusetzen.

Doch hier entsteht gerade global für die Demokratien eine neue Herausforderung. Ethische Regeln werden bei globalen Unternehmen zu einem kleinsten gemeinsamen Nenner entwickelt. Die Ergebnisse der Compliance dürfen nicht im Widerspruch zu den wirtschaftlichen Zielen des Unternehmens liegen. Jeder Compliance-Manager weiß, wie schwer es ist, sich mit einer guten Lösung gegen den Vorstand zu behaupten. Der muss seinen Shareholdern ständig wachsende Umsätze und Gewinne präsentieren.
Berücksichtigt man, dass wir in Deutschland viele Hidden Champions haben, also große Unternehmen, die unbekannt sind, weil sie nicht den Endkunden beliefern, sondern Zulieferer einzelner Bauteile sind, dann wird besonders in Deutschland die Abhängigkeit von der globalen Entwicklung und somit von globalen Regeln deutlich.
Die Compliance gerät deshalb in die Gefahr, zum Demokratiezerstörer zu werden, weil seit 2020 durch Einführung des Social Credit Systems bei internationalen Unternehmen neue Spielregeln entstehen.

Halt, das betrifft doch nur das weit entfernte China. Nein, eben durch die Compliance wird es auch unmittelbar uns in Deutschland betreffen. Das Social Credit System bewertet nicht nur wie die Compliance das Verhalten von Mitarbeitern im Unternehmen. Es bewertet auch das Verhalten in der Freizeit. Die Compliance ist bisher auch dafür da, um Fehlverhalten vertraulich innerhalb des Unternehmens zu regeln. Das Social Credit System ist öffentlich und es berücksichtigt auch die Beziehungen aller Akteure untereinander.

Konkretes Beispiel: Ich schreibe heute diesen Artikel. In 5 Jahren ist er immer noch im Internet veröffentlicht. Mein Enkel erhält dann bei einem deutschen Hidden Champion keine Praktikumsstelle. Dieses Beispiel ist fiktiv, weil ich keinen Enkel habe. Nicht fiktiv ist, dass ich eigentlich heute schon diesen Artikel nicht mehr schreiben dürfte, weil er wahrscheinlich irgendwann in der Zukunft, wenn auch nur als kleiner Teil eines Rankings einem Verwandten von mir schaden wird. Nur weil ich hoffe, dass Politik und Gesellschaft noch im letzten Moment – nämlich genau jetzt -aufwachen, traue ich mich noch, etwas zu schreiben. Wenn sie nicht aufwachen und danach sieht es bisher leider aus, wird unsere Zukunft totalitärer als totalitär werden. Um Schaden vom Unternehmen abzuhalten werden die Compliance-Abteilungen sich Software anschaffen, die eine Einstufung durch das Social Credit System mit ähnlichen Daten und Algorithmen möglichst schon vor China simulieren. Auch sie werden dafür alle ihnen zur Verfügung stehenden Daten benutzen.
Ich muss mir jetzt schon genau überlegen, ob ich noch rechtfertigen kann, öffentlich eine Meinung zu äußern, wenn dadurch meinen ganzen Nachfahren in Sippenhaft genommen werden können.
Aber wir haben doch einen Rechtsstaat? Wir haben doch die Verfassung? Dann spielen wir es doch einmal durch. Mein Beitrag ist weltweit öffentlich und wird von automatischen Algorithmen erfasst und bewertet. China strebt mit der Seidenstraße die Weltherrschaft an. Also werden im chinesischen Social Credit System alle weltweit öffentlich verfügbaren Informationen verwertet. Ebenfalls öffentlich sind über Social Media Portale Verwandtschaftsgrade nachvollziehbar. Darüber hinaus verfügt China auch über viele andere Quellen wie durch den Ankauf gehackter Daten. Alle diese Daten fließen in das Social Credit System und das Rating aller mit mir in Beruf, Politik und Privatleben vernetzten Personen ein. Nun stellen Sie sich einmal meinen Enkel vor, der vor einem Gericht forensisch verwertbare Beweise vorlegen soll, warum er die Praktikumsstelle nicht erhalten hat!? Auch andere Unternehmen greifen auf die gleichen Daten zu und weisen ihn ab. Ohne Praktikum kann er sein Studium nicht abschließen…

Seit vielen Jahren warne ich die Politik vor diesen Gefahren. Passiert ist wenig. Jetzt besteht der dringende politische Handlungsbedarf, geeignete Maßnahmen zu entwickeln, um den Einfluss von Social Scoring Werten in Deutschland zu verhindern. Neue Gesetze werden hierfür nicht ausreichen.
Eine Maßnahme mit Priorität ist das staatliche Garantieren einer technischen Infrastruktur, die in einer zunehmend digitalen Gesellschaft verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte zur Selbstentfaltung, sowie die Privatsphäre sicherstellt. Nur so können demokratische Diskussionen ohne Angst vor Repressalien in einem geschützten Raum stattfinden.
Wenn die Compliance-Manager nicht zu Gehilfen totalitärer Staaten gemacht werden sollen, muss für in Deutschland / Europa tätige Firmen ein neuer Verhaltenskodex geschaffen werden. Auf Geschäfte mit China zu verzichten, wird wahrscheinlich nicht die Lösung sein. Wichtig sind Vereinbarungen, welche ein Ausspielen europäischer Wettbewerber gegeneinander durch China über den Social Credit Wert verhindern.

Ein Chefredakteur würde mir übrigens raten, diesen Artikel nicht jetzt zu veröffentlichen, wo die Öffentlichkeit mit dem Coronavirus beschäftigt ist. Aber kommt dieses Virus nicht für das Social Credit System gerade recht. Kann es hier seine Stärke zeigen? Wie wirkt es sich auf das Rating aus, wenn jemand sich ansteckt, weil er anderen hilft?

Die wilden 20er – Werden wir noch einmal unsere Freiheit verteidigen?

Was erwartet uns in der nächsten Dekade?
Für Vorhersagen bereitet mir als Zukunftsforscher die exponentiell zunehmende Innovationsgeschwindigkeit wenig Kopfzerbrechen. Unkalkulierbar ist hingegen der Risikofaktor Mensch.
Die letzten zehn Jahre waren in Deutschland geprägt durch deutliche Auflösungserscheinungen unserer Gesellschaft. Die demokratischen politischen Parteien ringen zunehmend um ihre Legitimation und glaubhafte Alleinstellungsmerkmale. Populisten binden Protest- und Frustwähler an sich. Existenzgründungen gingen jährlich um zirka zwei Prozent zurück….

Für einen Blick auf die nächste Dekade ist es nötig, die globale Entwicklung im Auge zu behalten. Deutsche (Negativ-) Entwicklungen haben inzwischen globale Ursachen. Digitale Trends entstehen nicht in Deutschland, sondern da, wo die Massen leicht zu steuern sind. Eine Rolle spielen der Leidensdruck einer Bevölkerungsgruppe und die tatsächliche Verbesserung ihrer Lebenssituation. So wurde das Smartphone auch deshalb erfolgreich, weil es den Bauern in Afrika ermöglichte, direkt mit der Welt verbunden zu werden und Handel zu betreiben. Das Social Credit System in China wird zunehmend erfolgreich sein, weil es vielen Chinesen durch das Rating erstmals überhaupt die Möglichkeit bietet, am wirtschaftlichen und somit auch gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung besteht die Chance, dass sich die 20er Jahre auf ihre Lebensqualität positiv auswirken. Allerdings wird diese Verbesserung nicht einem sozialen Engagement zu verdanken sein. Wir alle wissen inzwischen, dass wir ein kostenloses Internet mit unseren Daten bezahlt haben. Viele Weltbürger werden in den 20ern ihre Freiheit durch eine zunehmende Überwachung und manipulative Machtausübung verlieren. Das werden sie hinnehmen. Was hilft schließlich die theoretische Freiheit dem, der seine Kinder nicht satt bekommt.

Wir in Deutschland jammern derzeit auf hohem Niveau. Allerdings ist der zunehmende Fatalismus der Deutschen im wahrsten Sinne fatal. Für uns als Zielgruppe werden die Smartphones, 5G, Internetplattformen und sonstigen digitalen Innovationstreiber nicht mehr gebaut. Unser Markt ist zu klein, die Kunden sind zu schwierig. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass wir in den neuen 20ern dieses hohe Niveau insbesondere in Bezug auf unsere Freiheitsrechte nicht verteidigen werden. In einer Art Self-fulfilling-prophecy fügen wir uns bereits jetzt in eine Zukunft ein, die wir durchaus noch anders gestalten könnten.
Bisher haben sich Demokratien als nachhaltiger als Diktaturen erwiesen. Durch die digitale Überwachungs- und Datenverwertungsindustrie werden die Karten neu gemischt. Es ist viel einfacher als früher, eine Diktatur aufrechtzuerhalten. So können Technologien zur Steigerung der Lebensqualität für Mehrheiten mit Tools zum totalitären Machterhalt verbunden werden. Wenn wir jetzt nicht für digitale Gesellschaften Demokratie erhaltende Technologien einführen, ist es wahrscheinlich, dass der zunehmende Klimawandel totalitäre Systeme begünstigt. Totalitäre Staaten können innerhalb kürzester Zeit eine Verhaltensänderung für alle verordnen.

Als Zukunftsforscher habe ich mich seit über zwanzig Jahren mit der Frage beschäftigt, wie demokratische Systeme auf digitale demokratische Gesellschaften angepasst werden könnten. Wie vor hundert Jahren wären erneute wilde 20er möglich, in denen wir eine neue Lebenslust mit kreativen Höhenflügen entwickeln und eine liberale Geisteshaltung der Vielfalt in einem digitalen System abbilden könnten. Ein solches Lebensgefühl kann nur von unten nach oben von den Bürgern getragen und verbreitet werden.
Es mag arrogant erscheinen, wenn ich darauf hinweise, dass viele Fehlentwicklungen vermeidbar gewesen wären. Bei Umsetzung und beherzter Durchsetzung meines Patents zur finder-Technologie aus dem Jahre 1999 hätten wir die soziale Kontrolle in der digitalen Gesellschaft aufrechterhalten, so wie wir sie aus der analogen Welt kennen. Informationen wären weitgehend manipulationssicher von unabhängigen, anonymen Gleichgesinnten gelesen und diskutiert worden, bevor sie von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen worden wären. Stattdessen leben wir in einer Welt, in der Informationen besonders dann ungehindert verbreitet werden, wenn sie mehr unsere Emotionen, als unser Gehirn ansprechen. Die hierdurch eingeleitete Denkabschaltung ist auch für das Ende der Beteiligung Vieler am Entscheidungsprozess und somit die Auflösung von Demokratien verantwortlich.

Als anerkannter Fachbuchautor habe ich in mehreren Büchern beschrieben, mit welchen technischen Hilfsmitteln eine Demokratie erhaltende Gesellschaft gestärkt werden könnte.
Um eben diese Möglichkeiten einer breiten Zielgruppe unterhaltsam zugänglich zu machen, möchte ich jetzt eine fiktive Gesellschaftssimulation von 1999 bis 2035 unter dem Namen „Social Utopia“ veröffentlichen.
Nach meinem derzeitigen Erkenntnisstand wird sich für die Veröffentlichung kein Verlag finden, obwohl es einen vergleichbaren Roman bisher nicht gibt. Zwei Gründe habe ich hierfür identifiziert:

  • Das Thema ist zu nah an den aktuellen Befürchtungen des Lesers und wird eher verdrängt oder auf Grund der bereits vollzogenen Denkabschaltung auch gar nicht mehr verstanden.
  • Kein Verlag traut sich, ein Buch zu veröffentlichen, das für einen Bestsellererfolg auf die Klicks in eben jeden Plattformen angewiesen wäre, deren Geschäftskonzepte der Roman in Frage stellt.

Ist es da noch weit bis zu einer neuen Form der digitalen Bücherverbrennung? Was bedarf es noch, bevor jeder einzelne endlich versteht, dass es gerade auf ihn ankommt?

In diesem Sinne wünsche ich ein nachdenkliches, kreatives und engagiertes neues Jahr.

Olaf Berberich