Bei der letzten Europawahl gingen im EU-Durchschnitt 42,61 Prozent aller Bürger zur Wahl. Es gibt unterschiedliche Gründe, nicht wählen zu gehen. Für viele sind die EU und ihre Entscheidungen zu weit weg. Andere haben mit ihren eigenen Problemen zu viel zu tun, um über den Tellerrand zu blicken. Wieder anderen geht es gut. Die da oben haben es gerichtet und werden es auch in Zukunft richten.
Es stellt sich die Frage, ab wie viel Prozent Wahlbeteiligung unsere Demokratie zum Auslaufmodell wird. In Zeiten des Brexit scheint es gewagt, anzunehmen, die Mehrheit der Bevölkerung wählt nicht, weil für sie alles in Ordnung ist. Aber nicht nur die fehlende Wahlbeteiligung bedroht die Demokratie.
Was für den einzelnen Bürger noch weitgehend unbemerkt bleibt, sind die dramatischen globalen Veränderungen, denen wir nur mit einem starken Europa begegnen können. Schon immer wurden Staaten durch Bedrohungen von außen zusammengeschweißt. Für die heutige europäische Situation gibt es einen schwerwiegenden Unterschied. Europa ist kein Staat, sondern ein kompliziertes System, um die demokratischen Staaten unseres Kontinents zusammenzuhalten. Die Bedrohung ist bisher nur dann zu erkennen, wenn man wie ich als Zukunftsforscher genau hinschaut. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird jeder unmittelbar noch vor den nächsten Wahlen in fünf Jahren von den Auswirkungen betroffen sein. Demokratien allgemein und Europa im Besonderen benötigen sehr viel Zeit, um sich im Sinne von Vielfalt und Bürgerrechten zu entwickeln. Europa braucht sofort ein starkes Mandat durch die Bürger, sich den Herausforderungen noch stellen zu können.
Im Rahmen der Digitalisierung gibt es technische Sprunginnovationen, die in kürzester Zeit unsere Gesellschaft verändern. Neu ist, dass Staaten ihre Demokratie feindliche Ideologie mit solchen Sprunginnovationen kombinieren. Mit dem Einsatz einer ungeheuren Geldmenge strebt so China nicht nur eine globale Beherrschung der Märkte an, sondern auch die globale Beeinflussung mit seiner Ideologie. Derzeit entsteht eine digitale Gesellschaft, in der immer mehr Entscheidungen digitalen Systemen überlassen werden. Mit der chinesischen Digitalisierung fest verbunden ist das Social Credit System (SCS), welches Wohlverhalten belohnt und kleinste Abweichungen von einer zentral definierten Norm bestraft. Wesentliche Probleme der zentralen Kontrolle autoritärer Staaten werden durch die Digitalisierung gelöst. Bisher war unsere demokratische Selbstkontrolle von unten nach oben autoritären Systemen überlegen. Das jedoch ändert sich gerade.
Schon immer war die Mehrzahl der Bevölkerung nach dem Motto „Brot und Spiele“ daran interessiert, dass andere ihnen ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Der Staat soll es und wird es schon richten. Für diesen Teil der Bevölkerung bringen Score-Systeme wie das SCS Vorteile und Orientierung. Die in der Grafik dargestellte Entwicklung Chinas und Europas ist eine mögliche, in Teilen sogar wahrscheinliche. Wahrscheinlich ist, dass China etwas mit seinem bereits derzeit eingeführten SCS richtig macht. Für zirka 80 Prozent der Chinesen ist das SCS überaus willkommen. Denn die meisten Chinesen sind bisher in keinem Vertrauenssystem vergleichbar der deutschen Schufa eingebunden. Sie erhalten keinen Kredit, weil es eben keine Sicherheit durch eine Bewertung für die Banken gibt. Wenn China von Afrika lernt und Mikrokredite einführt, kann es im Zusammenhang mit dem SCS ein präzises System der Risikominimierung für den Kreditgeber und Sanktionierung des Kreditnehmers schaffen. Es ist also ebenfalls wahrscheinlich, dass der chinesische Binnenmarkt in den nächsten Jahren explodiert und China die bisherigen Nachteile einer staatlichen zentralen Steuerung durch das SCS kompensieren kann. Für uns wird es in den nächsten Jahren erst einmal positive Effekte geben. Wir haben viele deutsche Unternehmen, welche erheblich vom Wachstum des chinesischen Binnenmarkts profitieren werden. Allerdings steigt auch die Kapitalisierung Chinas extrem an. Hierdurch ist China bereits jetzt in der Lage, seine Ideologie über die neue Seidenstraße mit einem Investitionsvolumen von 1000 Milliarden Euro in Asien, Afrika und neuerdings auch Teilen von Europa zu etablieren. Die Strategie ist vergleichbar mit Google und Amazon. China konzentriert sich auf die auch in der digitalen Gesellschaft für die Daseinsvorsorge nötigen Infrastrukturen. In einer nie dagewesenen globalen Größenordnung sichert sich China Logistik, Energie und digitale Infrastruktur. Es ist ebenfalls wahrscheinlich, dass die von China betreuten Staaten das SCS einführen werden. Wird diesem System nicht schnellst möglich ein demokratisches System mit ebenfalls globalem Anspruch entgegengesetzt, wird das SCS die Demokratien in ihrer Existenz bedrohen. Durch das mit dem SCS verbundene extreme Wirtschaftswachstum wird auch die globale Umweltbelastung die Prognosen weitgehend übersteigen. Er ist aber auch wahrscheinlich, dass China einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Umweltprobleme leisten wird. Dabei spielt keine Rolle, wo in der Welt die dafür nötigen Sprunginnovationen, wie zum Beispiel ein Fusionsreaktor, erfunden werden. China wird eine solche Innovation aufkaufen. China kann fast jeden Preis durch seinen riesigen Absatzmarkt wieder hereinholen. Bereits jetzt gibt China über 300 Milliarden Euro für die Entwicklung erneuerbarer Energien aus.
Es gehört nur noch wenig Spekulation dazu, sich vorzustellen, dass China demnächst eine globale Flatrate für Mobilität, Heizung, Energie und 5G anbieten wird. Diese wird China auch bei uns mit der Bedingung verknüpfen, sich dem SCS zu unterwerfen. Jeder, der sich für diese Flatrate entscheidet, wird eine Entscheidung gegen die Demokratie treffen. Bereits jetzt können wir nur mit größten Anstrengungen das Recht auf Privatheit für die Bürger gewährleisten. Morgen müssen wir alle Bürgerrechte gegen eine bezahlbare Infrastruktur eintauschen. Soweit darf es nicht kommen! Unsere Umweltziele zu erreichen, wird eine große Herausforderung. Noch dringender müssen wir allerdings jetzt entscheiden, an welches gesellschaftliche System wir das Erreichen dieser Ziele knüpfen wollen.
Wählen Sie deshalb am Wochenende die Partei, welche die Priorität auf die Verteidigung der Bürgerrechte legt.
Auch für mich als Zukunftsforscher ist es schwer, sich herein zu versetzen, wie sich eine Zukunft mit dem SCS anfühlt. Ich habe mehrere Fachbücher veröffentlicht. Diese sind für den Kopf geschrieben und erreichen weder das Herz noch ein breites Publikum. Deshalb habe ich mich entschieden, jetzt ein unterhaltsames Buch mit dem Titel „Social Utopia“ zu schreiben. An Alltagsszenen werde ich schildern, wie sich das Leben mit dem SCS im Jahre 2035 wohl anfühlt und wie schwer es sein wird, sich darin selbst zu verwirklichen.
Olaf Berberich