Maya war besorgt. Sie hatte jetzt schon mehrere Tage versucht, ihren Bruder Max zu erreichen. Nie ging der ans Telefon. Irgendwie hatte sie sich immer für ihren kleinen Bruder verantwortlich gefühlt.
Maya Frederichs hatte eine unbeschwerte Jugend. Als Tochter einer Lehrerin und eines Postbeamten war für sie eine Beamtenkarriere nicht erstrebenswert. Heute kam ihr in den Sinn, dass es wohl gerade die Sicherheit der heilen Welt ihrer Jugend gewesen war, welche es ihr ermöglicht hatte, die Ruhe und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, um in ihrem Leben etwas zu riskieren.
Als ihre Eltern den radikalen Wandel in ihrem Leben vornahmen, hatte sie bereit 3 Jahre Betriebswirtschaftslehre studiert und befand sich weit weg in Peking in einem Praktikum.
Für Max muss damals eine Welt zusammengestürzt sein. Er befand sich mitten im Abitur. Ehrgeiz war nicht seine Stärke. Auf Grund seiner aufgeschlossenen Art hatte er einen großen Freundeskreis. Er hatte immer geglaubt, von der Familientradition bestimmt zu sein, Briefträger zu werden. Er fand es gut so. Denn diese Arbeit war überschaubar und würde ihn nicht an dem hindern, was er sich unter seinem Leben vorstellte. Das Abitur hatte er nur gemacht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Gebüffelt hatte er nie. So hatten ihre Eltern auch nie einen Grund, sich um ihren Bruder zu sorgen.
Später waren sie dann voll mit dem Aufbau der Kategorienagentur beschäftigt. Maya war die einzige, die sah, wie orientierungslos Max anschließend war. Um nicht den regelmäßigen monatlichen Scheck seiner Eltern zu gefährden, meldete Max sich 2001 in Heidelberg zum Studium der Wirtschaftswissenschaften an. Vielleicht war Max ja so mit seiner Diplomarbeit beschäftigt, dass er nicht ans Telefon ging, versuchte Maya sich zu beruhigen. Doch dann erinnerte sie sich wieder an ihren letzten Besuch bei Max. Sie hatte das Gefühl, dass er kaum mehr aus seiner Studentenbude herauskam.
Früher hatte er ihr immer alles über seine Freunde erzählt. In einer gewissen Weise stand er ihr näher als ihr Freund. Mit ihm konnte sie alles besprechen. Aber beim letzten Besuch schien Max wie ausgewechselt. Er sah aus, als habe er in der letzten Zeit nicht viel geschlafen. Was sie am meisten beunruhigte, er antwortete auf alle ihre Fragen nach seinen Freuden und der aktuellen Freundin nur ausweichend. Sie erfuhr nichts.
Wieder wählte Maya seine Nummer. Ganz, ganz leise meldete er sich mit einer Stimme, die dem Ärger über die Störung Ausdruck verleihen wollte, der aber die Kraft hierzu fehlte.
„Max, warum meldest Du Dich denn nicht. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. “
„Maya?“ fragte er, als hätten er seit zehn Jahre nichts von ihr gehört.
„Hast du jemand anders erwartet?“ wollte Maya ihn necken. Aber Max hatte wohl jeglichen Humor verloren.
„Was willst Du denn?“
„Na, ich will wissen, wie es Dir geht, Du Dummkopf“. Spätestens jetzt hätte er schon aus alter Gewohnheit heftig über sie herfallen müssen. Er hatte sich immer fürchterlich aufgeregt, wenn er irgend etwas schlechter konnte als seine drei Jahre ältere Schwester und sie ihn damit neckte.
„Ich bin ziemlich im Stress“.
„Wegen deiner Diplomarbeit?“
„He, ach so ne, das ist im Moment nicht so wichtig. Sag mal, was für ein Tag ist denn heute?“
Nun konnte Maya ihre Sorge in der Stimme nicht mehr unterdrücken: „Max, ich will jetzt sofort wissen, was los ist. Warum bist Du so verändert? Warum weißt Du nicht, was für ein Wochentag ist?“
„ Schwesterchen, sein nicht böse, aber ich muss jetzt wieder, die anderen mögen es nicht, wenn ich so lange wegbleibe. “ Max legte einfach auf. Maya war fassungslos. Dann stiegt Panik in ihr hoch. Sie rieft ihre Sekretärin an:“ Bitte sag alle Termin in der nächsten Woche ab“. Sie stiegt sofort in ihr Auto und fuhr die Strecke von Hamburg nach Heidelberg durch.
An seiner Wohnungstür klingelte sie Sturm. Max Studentenbude lag mitten in der Stadt in der Nähe der Schlossruine. Die Dachgeschosswohnung befand sich im 4 Stock. Als er auf das Klingeln nicht reagierte, war sie kurz davor, die Polizei anzurufen. Eine alte Dame öffnete die Tür und schob ihren Rollator auf die Straße. Die Seniorin war so auf den vor ihr liegenden weiten Weg bis zum Bäcker an der Ecke konzentriert, dass Maya unbemerkt an ihr vorbei die Treppe hoch stürmen konnte. Die Tür zu Max Dachgeschosswohnung war nur angelehnt. Maya hatte sich auf ihrer Fahrt alles mögliche vorgestellt. Dass hier Max alleine vor dem Computer saß, gehörte nicht dazu.
„Max“ rüttelte Maya an ihm. Er war kein bisschen überrascht, über ihr unerwartetes Auftauchen. “Ach Du, Schwesterchen, warte, ich muss das gerade noch fertig machen“.
Maya versuchte sich zu beruhigen. Sie fand sich hysterisch, was hatte sie sich nur alles eingeredet.
Sie setzte sich auf eine Couch, von der sie einen guten Blick auf den Computerbildschirm hatte. Wahrscheinlich recherchierte Max nur für seine Diplomarbeit . Doch dazu passte nicht die Geschwindigkeit, mit der Max in die Tastatur hackte.
Sie sah sich den Bildschirm genauer an. Im Internetbrowser war so etwas wie eine Kommandozentrale zu sehen. Es gab mehrere simulierte Bildschirme, in denen Avatare mit darunter liegenden Texten angezeigt wurden. Max schien mit den Avataren zu kommunizieren.
Maya schaute dem Spielen von Max eine Stunde zu, ohne dass Max sich auch nur ein einziges Mal zu ihr umgedrehte. Dann wurde es ihr zu bunt:“ Max, Du machst jetzt eine Pause, jetzt. “
„Aber. “
„Kein Aber, Du hörst jetzt auf. “
„Aber die anderen meinen, dass wir uns jetzt keine Pause leisten können, sonst schafft unsere Gruppe das Level nicht rechtzeitig“.
Maya, die sich noch nie mit Onlinespielen auseinandergesetzt hatte, machte jetzt einen schweren Fehler: „Wer sagt was? Meinst Du etwa deine Spielfiguren?“
„Spielfiguren? In welchem Zeitalter lebst Du denn, Maya? Alle sind so echt wie ich. Die Avatare sind doch nur ein grafisches Hilfsmittel um die Persönlichkeit, die sich der einzelne ausgesucht hat, darzustellen. Was, ja natürlich. “ Die letzten Worte sprach er schon in Richtung Bildschirm und begann wieder in irrsinniger Geschwindigkeit seine Tastatur zu foltern.
Nach mehreren weiteren vergeblichen Versuchen, noch einmal zu Max durchzudringen, zuckte Maya die Achseln und ging erst einmal in die Küche, um einen starken Kaffee und ein kräftiges Essen zu machen. Der Inhalt des Kühlschranks stellte sie in keiner Weise zufrieden. Ohne den Versuch, Max zu informieren, nahm sie den Wohnungsschlüssel und ging das Nötigste einkaufen.
Zwei Stunden später waren zehn Speckpfannekuchen fertig. Max Lieblingsessen. Seinen Kaffee hatte Max nicht angerührt. Unbeirrt schüttete Maya den Kaffee weg und machte einen neuen. Sie stellte Kaffee und Speckpfannekuchen auf den Tisch und sagte sehr deutlich: “Max, kommst Du jetzt zum Essen?“
„Mh, gleich“.
Maya wartete noch eine viertel Stunde. Das Essen war schon fast kalt. Dann zog Sie den Stromstecker aus dem Router. Plötzlich wurde Max ganz hektisch und begann zu heulen: “Warum antworten die anderen denn nicht mehr? So kurz vor dem nächsten Level?“
„Max, Du isst jetzt. Ich haben den Stecker aus dem Router gezogen. “
„Was hast Du?“ so wütend hatte Sie Ihren Bruder noch nie erlebt. Sie bekam richtig Angst, als er von seinem Stuhl aufsprang. Er wollte Richtung Router laufen. Doch kaum stand er, da wurde er weiß wie eine Wand und klappte zusammen. Er merkte nicht, wie Maya ihn auffing und all ihre Kraft aufbrachte um ihn auf sein Bett zu legen. Er wehrte sich nicht mehr, als sie ihm den Kaffee und das Essen einflößte. Trotz Kaffee fiel er anschließend in einen traumlosen tiefen Schlaf und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf.