Ai Chen war heute Morgen früh in der Marina. Da sie das heutige Treffen organisiert und die Tinca Tinca gechartert hat, wollte sie sicherstellen, als erste da zu sein und hatte bereits alle Formalien mit dem Vercharterer geregelt. Den Schlüssel zum Boot hat er ihr gegeben.
Sie freut sich bereits seit einer Woche auf das Wiedersehen mit Conor.
Heute wird es wieder schön werden. Es fühlt sich viel wärmer an als 18 Grad. Die Sonne bescheint warm das gelbe Mäuerchen vor dem Sanitariat, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte.
Die Gedanken schweiften ab. Kaum zu glauben, was alles in den letzten Jahren passiert war.
Im Januar 2011 musste sie alle Kraft aufbringen, um noch an die Zukunft zu glauben.
Immer würden ihr die Bilder im Gedächtnis bleiben, wie sie reumütig vor dem Mittleren Volksgericht in Nanjing den Mord an dem französichen Geschäftsmann Loise Fontaine gestanden hatte. Detailliert schilderte sie dem Gericht, wie sie mit ihm eine Beziehung angefangen hatte und ihn über längere Zeit mit Schwermetallen vergiftete.
Sie hatte sich für den Prozess die Haare kurz geschnitten und ein einfaches weißes Kleid angezogen. Niemand sollte in ihr die Geschäftsfrau mit juristischem Staatsexamen sehen. Als Motiv wurde ihr unterstellt, sie hätte sich an dem Vermögen von Fontaine bereichern wollen.
Alles war perfekt inszeniert. Nur sechs Stunden dauerte die Verhandlung. 10 Tage später kam dann das Todesurteil. Da sie mit einem Mitglied des ZK verheiratet war, wurde die Todesstrafe ausgesetzt.
Niemand recherchierte die vielen Unstimmigkeiten in der Aussage von Ai Chen. Unschwer hätte man feststellen können, dass sie monatlich mit ihren Beteiligungen mehr verdiente, als das ganze Vermögen von Loise Fontaine ausmachte. Aber das Gute an China ist, dass nicht einmal das ZK problemlos alle Beteiligungen einer Person recherchieren kann. Schon gar nicht, wenn die Wahrheitsfindung nicht im Interesse der Regierung liegt.
Tatsächlich hatte Loise Fontaine für den französischen Geheimdienst gearbeitet und versucht, auf sie Einfluss zu nehmen. Er hatte es geschafft, sich mit seinem Charme in ihr weitgehend vor der Öffentlichkeit abgeschirmtes Privatleben einzuschleichen.
Zu lange hatte sie auf zärtliche Zuwendungen verzichten müssen.
Als sie merke, wie viel Loise wusste, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn auszuschalten – natürlich mit Rückendeckung des ZK. Als Tochter eines Revolutionärs der ersten Stunde weiß sie, dass man nur seine eigenen Interessen durchsetzen kann, wenn gleichzeitig das ZK überzeugt ist, dass man 100% der Partei dient.
So war sie schon früh für geheimdienstliche Aktionen ausgebildet worden. Zudem hatte sie mehrere politische Gegner vergiftet und damit im Sinne der Partei ausgeschaltet.
Niemand hatte damit gerechnet, dass die Familie Fontaine in Frankreich ihren Einfluss auf die französische Presse so gut nutzte, dass hieraus ein weltweiter Pressewirbel entstand, an dem die Regierungen beider Seiten keinerlei Interesse haben konnten.
Eine öffentliche Verurteilung von Ai war nötig geworden.
Aber das ZK hatte Wort gehalten. Sie kam in ein Laogai in der Nähe von Zhenjiang. Auch wenn es inzwischen Gefängnis heißt, hat sich der Vollzug nicht sehr von den Laogai-Lagern entfernt. Umerziehung soll durch besonders harte Arbeit erfolgen.
Die Insassen in ihrem Lager stellten einfache Arbeitskleidung her. Ai Chen wurde vor den anderen Gefangenen eine besonders harte Aufgabe in der Bleicherei zugewiesen. Alle möglichen farbigen Textilreste wurden solange geblichen, bis das Einheitsgrau einfacher Arbeitskleidung hieraus entstand.