Professor Liebetreu saß auf der Terrasse seines kleinen Häuschens. Endlich Ruhe, nichts und niemanden mehr sehen. Nichts mehr denken und vor allem nicht mehr erinnern – für die Pension.
Letzte Woche noch, da saß Liebetreu im Landgericht einer deutschen Kreisstadt. Den Namen durfte er nicht einmal denken. Es war haarscharf gewesen, dann hätte er seine Pension verloren. Wofür?
Es war genauso dumm wie gutmütig gewesen. Er hatte wirklich geglaubt, dass es so etwas wie Fairness im Geschäftsleben gibt. 1998 hatte er Christian Wolff nach einer linguistischen Vorlesung kennen gelernt. Wolff war ihm zunächst wegen seiner äußerst unterwürfigen Haltung unsympathisch gewesen.
„ Herr Professor Liebetreu, also entschuldigen sie, also ich möchte wirklich nicht stören. “
„Ja, nun. “
„Ich habe mich mit einer Sache beschäftigt, die mich nicht in Ruhe lässt. Sie haben doch in ihrer Vorlesung von Morphemen gesprochen. Meinen Sie, dass man die kleinste mögliche Sinneinheit auf den Computer übertragen könnte?“
Liebetreu hatte täglich mit dem Computer zu tun, aber warum gerade die Morphemmethode dem Computer weiterhelfen sollte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Andererseits hatte er lange ein spannenderes Betätigungsfeld als die Linguistik gesucht. Auch war das der Bereich, der von der öffentlichen Hand extrem forciert wurde. Wer den Schlüssel zur Wissensgesellschaft findet, na, dem gehört die Zukunft. „Herr Wolff, kommen Sie doch morgen nach der Vorlesung um 14. 00 Uhr vorbei. Da habe ich Zeit. “
Es begann schon wieder hell zu werden, als sie auseinander gingen.
„Herr Wolff, das müssen sie sich patentieren lassen, soll ich mit einem guten Anwalt einen Termin machen?“
„Herr Professor, das wäre wirklich ausgesprochen zuvorkommend von Ihnen. Wenn das möglich wäre, das wäre wirklich phantastisch. “
Der Patentanwalt, der im Wesentlichen für ein großes Telekommunikationsunternehmen arbeitete, war beeindruckt. Nachdem er telefonisch von Liebetreu erfahren hatte, worum es ging, hatte er den Termin kurzerhand dazwischen geschoben. „So was kommt mir nur selten auf den Tisch.
“ Meist geht es nur um eine kleine Neuerung an einer bestehenden Technologie. Wenn wir den Verfahrenskern herausarbeiten können, müsste das patentierbar sein. “
Nur wenige Wochen später bekam Liebetreu einen Termin im Landesbildungsministerium. 1999 mitten im Internet Hype hatten die meisten Ministerien schon das ein oder andere Vorzeigeprojekt. Diesen Trend hatte man im Bildungsministerium bisher verschlafen. Die im Wirtschaftsministerium würden Augen machen, wenn man hier ein Technologiecluster bauen könnte und das gesamte Internet zukünftig steuern würde. „Das fördern wir alles. Stellen Sie den Antrag. “
Den hatte Liebetreu gestellt und prompt 2 Millionen Euro bekommen. Und nun, nun war er nur ganz knapp an einer Verurteilung wegen Untreue vorbeigeschrammt, weil die Richter der zweiten Instanz sich zumindest die Beweise angesehen haben. Persönlich, persönlich hatte er nur Arbeit damit. Wenn ihn jemand darauf ansprechen würde, würde er heute leugnen, dass er neben vielen Arbeitsstunden auch noch persönlich Geld dahinein gesteckt hatte. Alle würden ihn für einen Trottel halten.
Die Rente hatten sie ihm unter der Voraussetzung gelassen, dass er keinen Kommentar zur ganzen Sache abgeben würde. „Sie würden sonst immer einen Weg finden“ ließen sie ihn wissen. Wer sie waren, wußte er bis heute nicht so genau. Aber dass sie eine Möglichkeit fanden, ihm mitzuteilen, was sie von ihm erwarteten, ohne je mit ihm zu sprechen, zeigte, wie mächtig sie waren.
Sie hatten ihn klein gekriegt, so klein, dass er in Pagera niemandem erzählte, dass er Professor war. Genaugenommen, wenn er nicht musste, sprach er überhaupt nicht mehr – trotz hervorragender Kenntnisse der deutschen Sprachsyntax.