Ausschnitt der fiktiven Insiderstory 7/11 zur Finanzkrise – Januar 2009

Noch immer lebte Talik allein. Er fand sich noch erstaunlich gut zurecht, obwohl das Sehen immer schlechter wurde. Er machte sogar noch ausgiebige Spaziergänge. Den Garten schaffte er nicht mehr. Eine alte Freundin aus der Nachbarschaft, die eine kleinere Rente hatte als er, half nun im Garten und im Haus gegen ein kleines Entgeld. Er war froh, dass zumindest noch ein wenig Abwechslung in seinem Leben war.

Diesen Sommer war er so alleine gewesen, dass er keine Handtücher mehr auf die Liegen des Stegs legte. Wenn Touristen an dem augenscheinlich verlassenen Bootssteg anlegten, kam er heraus und verwickelte die Besucher in ausführliche Gespräche.

Keiner der Eindringlinge konnte sich guten Gewissens einer längeren Unterhaltung entziehen.

Doch diese Woche war alles anders. Diese Woche war Isabella zu Besuch.

Es klingelte und Isabella kam vom Einkaufen zurück. Das Aufstehen wurde für Talik immer schwerer. Aber wenn es einem über achtzig noch so gut ging, durfte man sich nicht beklagen.

Isabella hatte sich vorgenommen, Talik in den zwei Wochen, wo sie da war zu mästen.

„Im Alter braucht man nicht mehr soviel.“

„Ach Paps, Du bist doch nur noch Haut und Knochen. Was hast Du früher geschimpft, wenn ich nichts gegessen habe.“

Ja so war das. Alles was man den Kindern in deren Jugend an Vorhaltungen gemacht hatte, bekam man mit Zinsen im Alter zurück. Darauf war Verlass.

Gott sei Dank hatte er Isabella immer viele Freiheiten gelassen.
Isabella packte die schweren Taschen aus. Irgendwie wirkte sie bedrückt. Das merkte er, obwohl er immer mehr aufpassen musste, dass schlechtes Sehen und inzwischen auch schlechteres Hören nicht zu Fehleinschätzungen führten.

„Isabella, geht es Dir gut.“

Isabella antwortete erst nach einer langen Pause. Sie rang wohl innerlich mit sich, ob sie es ihm sagen sollte: „Wir, also in erster Linie Levis, haben ziemliche Sorgen.““Die Finanzkrise?“

„Levis kommt sich nur noch wie ein Mülleimer vor, den alle Kunden benutzen um ihre Wut auszuschütten, weil er ihnen keine Kredite mehr geben kann.“

„Ist den sein Job noch sicher?“

„Nicht wirklich, lange geht das nicht mehr.“

„Aber Deiner doch hoffentlich?“

„Ich werde aus Deutschland bezahlt. FINDERS geht es so gut, da müsste ich schon silberne Löffel klauen, um entlassen zu werden. Mit meinem Gehalt kommen wir durch.“
Isabella ging schnell in die Küche, damit ihr Vater die Tränen nicht sah.

Sie aßen schweigend. zweimal lobte Talik das Essen. Im Alter gab man sich selbst nicht mehr viel Mühe mit seiner Ernährung.Nach dem Essen setzten sie sich wie früher ans Fenster und beobachteten die winterliche Müritz.

Nach dem Essen setzten sie sich wie früher ans Fenster und beobachteten die winterliche Müritz.

„Paps, auch wenn Ihr hier in Deutschland nicht unsere Probleme habt, die internationalen Finanzmärkte sind  so vernetzt, dass auch Geld in Deutschland betroffen sein kann. Hast Du Geld angelegt?“

„Kind, braucht Ihr Geld?“

„Nein, wir haben keine Schulden im Gegensatz zu den meisten Amerikanern. Aber durch Levis habe ich ein wenig über Geldanlagen gelernt. Ich möchte nicht, dass man Dich über den Tisch zieht.“

Talik war ein wenig beleidigt: „Ich kann noch sehr gut rechnen. Lass mir doch noch ein paar Geheimnisse. Mein Geld ist sicher auf Festgeldkonten angelegt.“

„Das beruhigt mich, weißt Du, man kann wirklich viel falsch machen.“
In der Nacht schlief Talik schlecht. Wenn man in seinem Alter auf der Bank zu viele Fragen stellte, hielten die einen gleich für senil. Er hatte sich, wie immer im Leben, einen einfachen Weg zurechtgelegt, um komplizierte Zusammenhänge zu überprüfen. Zuhause hatte er immer seine Zinsen überprüft. Die waren immer niedrig gewesen, teilweise hatte er auch gar keine bekommen. Auch die im Fernsehen hatten gesagt: „Hohe Zinsen, hohes Risiko; niedrige Zinsen, niedriges Risiko.“

Beim Frühstück zeigte er Isabella eine seiner kleineren Geldanlagen.

Isabella warf nur einen Blick darauf und sagte: „Paps, das sind amerikanische Rentenfonds.“ Talik ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Die Frau Münztaler von der Warener Genossenschaftskasse berät mich jetzt seit fast 20 Jahren. Es war nie ein Risiko dabei.“

Aber er kannte die Hartnäckigkeit seiner Tochter und gab ihr schließlich die gesamten Unterlagen.

Über eine Stunde beschäftigte sich Isabella mit den Unterlagen. „Paps, wenn ich das richtig sehe, hast Du in den letzten Jahren Verlust gemacht. Du hast kein Festgeld. Du hast nur Inhaberschuldverschreibungen. Das ist so kompliziert, da blicke ich nicht durch und vor allem hast Du amerikanische Rentenfonds. Die sind absolut im Keller.“

Eigentlich hatte Talik seiner Menschenkenntnis immer trauen können. Die Frau Münztaler hatte immer einen so seriösen Eindruck auf ihn gemacht.

„4,5 % Zinsen müssten es sein“, sagte er schließlich.

Isabella holte sich das Fondsprospekt, welches ihr Vater nie gesehen hatte, aus dem Internet.

Tatsächlich, die Fondsprognose ging von einer durchschnittlichen Rendite von 4,5 % aus. Aber immer wieder wurde im Prospekt auf die Risiken hingewiesen. In Juristendeutsch verklausuliert wurde auf die Möglichkeit eines Totalausfalls des eingesetzten Kapitals hingewiesen. Wörtlich hieß es: „Der Fond ist geeignet für Geldanleger mit einer mittlerer Wertpapiererfahrung und einer mittleren Risikobereitschaft.“

„Paps, weißt Du was ein Wertpapier ist?“

„Na, ich denke Du meinst etwas anderes. In der Druckerei haben wir immer Wertpapier zu hochwertigen Papieren gesagt, welche auch zum Geld drucken verwendet werden.“

Isabella lachte gequält: „Nein, vom Geld drucken sind wir leider weit entfernt. Immer wenn Du Geld benötigt hast, hat die Genossenschaftskasse Schuldverschreibungen gekündigt. Du hast nur 93 % des Nominalwerts eingezahlt, 100 % des Nominalwerts bekommst Du nur bei der ganzen Laufzeit. Paps ich versteh das auch nicht ganz, aber 2,8 % Zinsen für eine solche Anlage die keiner kapiert ist einfach lächerlich. Da Du bei vorzeitiger Kündigung nur 93 % vom Kurswert bekommen hast, waren die Zinsen wieder weg. Der Rentenfond ist auf jeden Fall jetzt weniger wert, als das, was Du eingezahlt hast.“

„Die können mir doch nicht einfach die Zinsen senken. Das würde Frau Münztaler nie tun.“

„Was ist den das?“ fragte Isabella mit Blick auf einen Zettel, auf dem in überdimensionalen Buchstaben handschriftlich geschrieben stand:

Das können Sie wegschmeißen!
 

„Frau Münztaler war so freundlich, mir meine Unterlagen zu sortieren und hat mir sortiert, was ich nicht mehr brauche“, sagte Talik, jetzt doch ein wenig kleinlaut.

Isabella gab auf. Sie machte telefonisch Druck und redete von „grob fahrlässiger Falschberatung.“
Am nächsten Morgen saßen Isabella und ihr Vater im Büro von Frau Münztaler. Sie begrüßte Herrn Talik überschwänglich und erkundigte sich nach seinem Garten.

Ihr Vater genoss es sichtlich, dass jemand sein Hobby zu schätzen wusste.

Frau Münztaler tat alles, um Isabella zu demonstrieren, wie gut Talik und sie sich verstanden.

Sie musste in zahlreichen Verkaufsschulungen trainiert worden sein, um die komplexe Materie wie Inhaberschuldverschreibungen so logisch und sicher zu schildern.

„Aber Isabella hatte am Vorabend noch mit Levis telefoniert. Der sagte zwar, deutsche Finanzprodukte würden sich völlig von amerikanischen unterscheiden, gab ihr jedoch den Tipp, sich im Gespräch nur auf die wichtigen Eckdaten zu konzentrieren.“

So fragte Isabella zu den Inhaberschuldverschreibungen nur: „Ist das denn eine sichere Anlage?“

„Alle Genossenschaftskassen haften mit ihrem Vermögen für einander.“ Dann sprach sie noch von einem Sicherungsfond.

Wofür braucht es einen Sicherungsfond, wenn alle füreinander haften, blitzte im Hinterkopf von Isabella ein Gedanke auf. Aber sie wechselte das Thema. Hier würde Frau Münztaler sie tot argumentieren.

Frau Münztaler war aalglatt und hatte die Tatsachen auf ihrer Seite. Schließlich war ja noch nie was Schlimmes passiert und wenn, dann hatte man das hinter verschlossenen Türen unter sich geregelt.
Isabella setze bei den Rentenfonds an. „Mein Vater ging davon aus, bei Ihnen nur Festgeld angelegt zu haben. Sie haben ihm Anlagen mit einem möglichen Totalausfall verkauft.“

„Auch die Rentenfonds sind sicher. Es handelt sich hierbei um die höchstsicheren …“

„Frau Münztaler, im Prospekt ist von einem möglichen Totalausfall die Rede“, unterbrach Isabella jetzt sichtlich entnervt und fing sich einen tadelnden Blick von ihrem Vater ein, dem es sichtlich unangenehm war, wie unhöflich sie zu Frau Münztaler war.

„Ach, das Prospekt kenne ich gar nicht, können Sie mir das mal zeigen“, sagte Frau Münztaler wohl wissend, dass sie Herrn Talik nie ein solches Prospekt gegeben hatte.

Isabella zog den Prospekt aus der Tasche. Sie hatte sich den Prospekt von der Internetseite des Fonds ausgedruckt. Es machte sie noch wütender, dass man hier den Gesprächspartner wohl genau soviel über den Tisch zog, wie es möglich war.

„Da steht nicht Totalausfall“, machte Frau Münztaler einen weiteren Versuch.

„Juristisch heißt es genau das, wenn hier steht, dass der Kurs steigen und fallen kann“, Isabella schäumte.

Frau Münztaler begann nun unbeirrt, Isabellas Vater die Vorzüge des Fonds zu erklären. Sie versäumte nicht, immer wieder zu erwähnen, dass der Fond absolut sicher sei.

Jetzt reichte es Isabella: „Geben Sie mir das schriftlich?“ Sachlich zu diskutieren brachte gar nichts. Schließlich war der Kurswert schon weit unter den Einstiegspreis gefallen. Sie wusste genau, was als nächstes kommen würde.

„Ich würde bei diesem niedrigen Kurs nicht verkaufen. Um die 4,5 % Rendite zu erreichen, sollten Sie mit dem Verkauf noch warten.“

Isabella hatte eine Idee: „Vater, kannst Du bitte mal wiederholen, was Frau Münztaler gerade gesagt hat?“

„Sie wollen Ihren Vater wohl hier vorführen“, versuchte Frau Münztaler die Antwort zu verhindern.

„Mein Vater ist für sein Alter geistig topfit“, raunzte Isabella zurück.

Talik sah überhaupt keinen Grund, warum er das nicht wiederholen sollte. Er war doch nicht blöd: „Frau Münztaler hat gesagt, dass ich meine 4,5 % Zinsen doch noch bekomme.“

Frau Münztaler sackte in sich zusammen. Natürlich gab es interne Rundschreiben, dass Produkte auf die Vorkenntnisse des Bankkunden abzustimmen sind. Aber der Druck von der Geschäftsleitung für die Bank hoch profitable Produkte heraus zu drücken wurde immer stärker. Die Anweisungen bekam man natürlich mündlich. Vor ihrem inneren Auge stellte sie sich diese Situation in Gegenwart eines Richters vor.

Isabella setzte nach: „Frau Münztaler, ist mein Vater ein Anleger mit mittlerer Wertpapiererfahrung?“

„Was mittel ist, ist Definitionssache“, gab Frau Münztaler lahm zurück.

„Das ist keine Definitionssache. Wir sprechen hier von null Erfahrung. Die null ist eindeutig zu definieren.“

Nun kam Isabella zum Punkt: „Ich erwarte, dass die Anlageverträge rückabgewickelt werden und mein Vater so gestellt wird, als habe er ein Festgeldkonto gehabt!“

Frau Münztaler zog ihren letzten Trumpf: „Dann bleibt mir nur, das Ganze an die Rechtsabteilung zu geben. Überlegen Sie es sich noch mal.“
Bei Talik und Isabella war die Urlaubsstimmung verflogen. Isabella wollte ihren Vater überreden zu klagen. Schließlich hatte er ja eine Rechtsschutzversicherung, welche er nie in Anspruch genommen hatte.

Zuletzt jedoch setzte sich Talik durch. Es war wirklich nicht möglich, dass er alleine um sein Recht kämpfte. Isabella musste schließlich wieder nach New York zurück.
 

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