6/11 Der Opportunist – Moskau, Mi, 22. November 2017

Er wartet am Flughafen Domodedovo am Gepäckausgabeband.

Zu viele Flughäfen hat er schon gesehen. Alle Gepäckausgaben ähneln sich.
Auch wenn sie modern ist, so lässt sich doch die sozialistische Vergangenheit nicht leugnen. Alles ist in beige gehalten. Als Zugeständnis an modernes Design hat man es mit der Auflockerung des Bodens durch braune und hellgraue Kacheln gut gemeint. Doch alles wirkt so planmäßig gleichgestaltet.
Vor allem jedoch hat man die metallenen Lüftungsschächte nur weiß gestrichen, aber nicht verkleidet.

Er ist so viel geflogen, dass er mit kurzem Augenöffnen genau sagen kann, auf welchem Flughafen er sich befindet, oder zumindest in welchem Land.

Die kyrillische Schrift ist ihm nicht unbekannt. Schließlich ist er in der DDR groß geworden und hat auch hier noch promoviert.

Damals hat man an etwas geglaubt und sich eingesetzt. Doch dann haben die anderen gesagt, dass alles falsch war, an was man geglaubt hat.

Er hatte beschlossen, nicht mehr zu glauben, sondern erfolgreich zu sein.
Er hat es als Ingenieur für Maschinenbau bis zum Abteilungsleiter Vertrieb gebracht und viele Aufträge für große Industrieanlagen im Ausland bekommen.
Nun ist er sechzig und möchte unbedingt bis fünfundsechzig noch durchhalten.

Viele Jahre war er eingesperrt hinter der Mauer. Immer hatte er vom Reisen geträumt. Nicht nur nach Moskau. Da konnte er auch schon vorher hin. Jetzt ist er mehr gereist, als er sich für sein Leben erträumt hat.

Er hat nie Fehler gemacht. Die hat er andere machen lassen.

Immer wieder musste er für sein Privatleben Kompromisse akzeptieren.

Mehrfach ist er umgezogen. Kaum hatte er ein Haus gebaut, da brauchte ihn die Firma wieder in einer anderen Niederlassung.

Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, wollte seine Frau nicht mehr umziehen. Gelegentlich besucht sie ihn auf seinen Reisen. Wenn es ihre Depressionen zulassen.
Außer einem Magengeschwür ist er kerngesund.

Trotzdem wird es immer schwerer für ihn, nicht von den jungen Kollegen verdrängt zu werden.

Abteilungsleiter ist er schon lange nicht mehr.
Man hat ihm als Projektleiter den Auftrag gegeben, ein Projekt in Ramenki zu übernehmen. Er hatte es bekommen, weil keiner von den Erfahrenen da hin wollte und nur er gut russisch spricht.

Die Vertragsunterschrift wäre nur noch Formsache, hatte man ihm gesagt.
Seit 6 Monaten kämpft er jetzt um diese Unterschrift.
Im letzten Moment tauchte ein asiatischer Konkurrent auf.

Seit dem lief alles schief. Mal war er auf den falschen Flug gebucht und verpasste einen wichtigen Verhandlungstermin.

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