In der modernen offenen Küche nahm ich mir einen Kaffee aus der Kaffeemaschine und setzte mich an den großen Esstisch. Brigitte hatte schlechte Laune. Sie hatte mir keinen Teller hingestellt, sondern lediglich den Aufschnitt vom eigenen Frühstück stehen lassen. Meist nahmen wir uns zumindest die Zeit, ein Brot gemeinsam zu essen. Wenn Brigitte mit dem falschen Bein aufgestanden war, dann waren das denkbar schlechte Voraussetzungen, um eine Entscheidung zu fällen. Doch ich würde von mir aus das Thema nicht zur Sprache bringen, auf keinen Fall. Ich erinnerte mich noch gut, wie schwer es damals für mich selbst war, eine Entscheidung zu treffen. Natürlich hatte ich im Gegensatz zu Brigitte keine Alternative – Frühverrentung kam für mich auf keinen Fall in Frage.
Ich hatte mich die ganze Zeit als Postbeamter geistig erheblich unterfordert gefühlt. Wer weiß, wenn nicht die alte Postbeamtentradition in meiner Familie bestanden hätte, vielleicht hätte ich sogar studiert. Lernen viel mir sehr leicht, jedoch interessierte mich der dröge Schulstoff nicht wirklich und ich erbrachte genau die Leistung, welche zur Aufnahme in die Ausbildung als Postbediensteter von mir erwartet wurde. Es war nicht einfach, 100% zuverlässige Mitarbeiter in diesem doch eher einfachen Beruf zu finden. Eine alte Familientradition als Referenz wurde sehr geschätzt. Für Brigitte gab es zumindest keinen finanziellen Aspekte, welche sie zu einer Rückkehr in die Lehrertätigkeit bewegen konnten. Einen Beruf mit mehr Perspektive als die eines Kategorienmanagers mit Deutschlandlizenz für den lukrativen Bereich Schuhe konnte man sich heute kaum mehr vorstellen. Immerhin beschäftigte ich inzwischen 70 Mitarbeiter als Trendscout, Communitymoderator, Regionalmanager oder Administrator.
Mich schauderte bei dem Gedanken, Brigitte könnte sich für die Rückkehr in den Lehrerberuf entscheiden. Schließlich hatte sie sich im letzten Jahr für mich unersetzlich gemacht. Sie hatte fast alle administrativen Aufgaben übernommen und hielt mir vollkommen den Rücken frei, dass ich mich vorwiegend um die Weiterentwicklung der Konzeption kümmern konnte, um den deutschen Onlineumsatz für Schuhe weiter zu steigern.
Natürlich hatten wir als Kategorienlizenzbüro keinerlei Verantwortung für die Schuhshops. Uns war nicht einmal erlaubt, einen eigenen Onlineschuhshop zu betreiben. Ein Kategorienmanager wäre durch seine Insiderkenntnisse und sein Branchennetzwerk jederzeit in der Lage , sich Vorteile vor den anderen Shops zu verschaffen.
Aber ein Teil des Umsatzes unseres Büros war an den Umsatz im Schuhbereich gekoppelt. Für die Berechnung der Provision wurde eine komplizierte Formel zugrunde gelegt, welche verschiedene Parameter wie z. B. den Zuwachs des Onlineumsatzes der Kategorie im Verhältnis zum Wachstums des gesamten Onlinemarktes berücksichtigte. Hier konnte man mit dem richtigen Communitykonzept eine Menge beeinflussen. Als Kategorienmanager der ersten Stunde hatte ich den Neuen eine Menge Wissen voraus. Die Kunst bestand darin, möglichst viele ehrenamtliche Mitarbeiter einzubinden.
Muffelig betrat Brigitte den Raum. Wir hatten es uns angewöhnt, uns leger zu kleiden, da auch in den üblichen Bürozeiten nicht mit Kundschaft zu rechnen war. Oft wussten noch nicht einmal unsere Mitarbeiter, wo unser Schiff gerade lag. Trotzdem legte Brigitte großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres und gab mir deutlich zu verstehen, wann es Zeit war, in mein Outfit etwas Abwechslung zu bringen.
Nachdenklich betrachtete ich die weibliche Figur meiner 1,70 m großen Frau. Auf Fremde wirkte sie oft etwas arrogant und abweisend, jedoch ich kannte sie als jemand, auf den ich mich 100% verlassen konnte, solange sie ihre Freiräume behielt. Brigitte lachte fast nie, aber war eine Frau mit unterschiedlichstem Lächeln. Alle Facetten kannte man erst, wenn man Brigitte sehr gut kannte: das lehrerhafte Lächeln, das humorvolle Lächeln, das mitleidige Lächeln – wie ich das hasste – das anerkennende Lächeln und na ja ein Lächeln, dass nur ich kannte. Wie weit gingen diese Freiräume? Ich wusste, der größte Nachteil, den Brigitte in ihrer jetzigen Tätigkeit sah, waren die fehlenden menschlichen Kontakte . Würde sie sich deshalb wieder für die Lehrertätigkeit entscheiden? Ich könnte es verstehen. Zwar hatte ich diese Probleme vorausgesehen und im Bug des Schiffes zwei Gästekajüten mit jeweils 4 Stockbetten und eigenem Bad eingerichtet, trotzdem gelang es uns nicht, jedes Wochenende in Gesellschaft zuverbringen.
„Hast du gestern an das Backup gedacht? Als ich heute Morgen die E-Mails abgerufen habe, lud sich mein Rechner alle E-Mails der letzten Tage erneut vom Server. Nur anstelle von Klartext kamen irgendwelche Hieroglyphen. “
„Ups, da hat der Provider wohl am Server gefummelt und den falschen ASCI Code eingestellt. Dass wir immer noch gezwungen sind, E –Mails zu bearbeiten, ich verstehe diese Leute von FINDERS nicht. R –Faxe, Anfragen über das Kontaktformular, Kommentarfelder, Bewertungsfelder. Warum E –Mails, das ist doch nur Spam, Briefe hat man schließlich auch abschaffen können!“
„Du weißt genau, dass FINDERS sein Konzept auf alle EU Länder übertragen will, die haben nun kein R- Fax und dann ist ja noch der Rest der Welt. Hast du nun Backup gemacht?“ Na, das fehlte noch. Das bringt das Fass zum überlaufen, Brigitte hat kein Bock mehr auf Technik. Hab ich oder hab ich nicht? Ich bin mir einfach nicht sicher. „Klar hab ich Backup gemacht, Du kannst ganz normal über das Betriebssystem den Status von gestern zurück holen, dann musst Du nicht jedes Mail einzeln löschen. “
Brigitte setzte ihr „Wenn das mal stimmt “ Lächeln auf und verschwand in den Raum vor der Messe, unserem gemeinsamen Büro.
Die Tür blieb auf und ich hörte, wie sie einige Befehle in den Rechner tippte. „Fhiep, Fhiep“ kündigte das Fax an, dass neue R –Faxe auf Abruf warteten. „Schatz, weißt Du, wo meine Achtcard liegt?“ Brigittes Stimme klang neutral. Hatte das Backup funktioniert?
„Hier auf dem Tisch, ich bring sie Dir. “ Wenn das Backup nicht funktionierte, wollte ich zumindest unmittelbar im Auge des Sturms Gegenmaßnahmen einleiten. Ich stand also vom Tisch auf – immerhin mit einer Tasse Kaffee im Magen – und ging an der Couchecke vorbei in den nächsten Raum, der groß genug war, um zwei Schreibtische und den Tisch für das Multifunktionsgerät aufzunehmen. Das Multifunktionsgerät konnte Scannen, Drucken, Faxen und Kopieren. Natürlich war es mit einem Achtcardleser ausgerüstet.
„Ich mach das mit den R –Faxen“.
Brigitte setze ihr „Du bist aber lieb Lächeln“ auf, sagte aber nichts. Ich nahm die Achtcard und suchte die richtige Seite. Die Achtcard sah aus, wie früher die Eurocard. Nur hatte sie auf jeder Seite 4 Chips, also insgesamt acht statt einem. Die Kunststoffkarte war durchsichtig.
Das war eine Idee der Datenschützer, welche für den Nutzer visuell überprüfbar machen wollten, dass es zwischen den Chips keine Verbindung gab. Ich wählte die breite Seite, auf der ein Symbol in Form eines Schlüssels abgebildet war und steckte die Karte in den passenden Schlitz. Sofort begann das Fax die aktuellen R –Faxe auszuspucken. In der Headerzeile druckte es außer dem Datum auch Brigitte Frederichs als Information aus der Karte meiner Frau, sowie einen einmaligen Barcode aus, mit dem sich im Zweifelsfalle eindeutig rekonstruieren ließ, dass das R –Fax mit der entsprechenden Achtcard ausgedruckt wurde. Sorgfältig überprüfte ich, ob alle Seiten vollständig waren, dann zog ich die Achtcard kurz heraus und steckte sie an der gleichen Seite noch einmal herein und drückte auf dem alphanumerischen Zehnerblock die Taste „ABC“ für bestätigen.
Hätte ich die Taste „PQRS“ gedrückt, wären alle R –Faxe erneut gesendet und ausgedruckt worden. Es war unbedingt erforderlich, das Verfahren bei den R- Faxen (R steht glaube ich für Response) einzuhalten.
Bevor alle Briefe abgeschafft werden konnten, musste erst die Gesetzeslage geändert werden. R –Faxe werden genau wie früher Einschreiben eigenhändig als rechtskräftig zugestellt betrachtet.
Ich ging zu Brigitte, um mir einen Kuss abzuholen, den sie bereits mit ihrem Mund andeutete. Unauffällig hatte ich Gelegenheit zu überprüfen, dass das Backup geklappt hatte. Gott sei Dank, die Laune von Brigitte schien sich zu bessern. Brigitte drehte sich um und wendete sich den neu eingegangenen R – Faxen zu, die gleichzeitig zum Ausdruck nun auch als PDF Files auf ihrem Rechner zur Verfügung standen.
Anfänglich hatte es große Widerstände gegen dieses Verfahren gegeben. Umweltschützer sahen den Verbrauch von ungeheuren Papiermengen vorher. Umfangreiche Untersuchungen konnten diese Vorwürfe jedoch entkräften. Tatsächlich hat sich der Papierverbrauch weitgehend minimiert, obwohl heute keiner mehr vom papierlosen Büro spricht. Das R –Fax zwang zu einer zweiten Archivierung wichtiger Dokumente in Papierform. Spätestens nach dem bekannt wurde, dass Datenbestände auf CD alleine auf Grund ihrer Lagerzeit beschädigt werden, gab Papier weiterhin ein sicheres Gefühl. Früher wurden die meisten Mails ausgedruckt, der Papierverbrauch war nicht geringer. Das Zustellen von Briefen kostete jedoch einen ungeheuren logistischen Aufwand. Alleine hierdurch wurde die Umwelt erheblich belastet und schließlich konnte man das gesamte Papier für Briefe und Umschläge einsparen. Die Ersparnis der Papierproduktion kommt bis heute unmittelbar Umweltprojekten im Regenwald zu gute, welche gleichzeitig eine Beschäftigungsalternative zur Forstwirtschaft bieten.
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- Die Patentanmeldung zur Achtcard finden Sie unter http://www.dpma.de unter der Anmeldenummer DE 10101874 A1