Ich bin müde vom langen Flug. Mit 58 Jahren steckt man das nicht mehr ganz so leicht weg.
Ich öffne die große hölzerne Flügeltür, die bis zur Decke des Erdgeschosses geht, mit der Schlüsselseite meiner Achtcard. Noch immer habe ich mich an das schöne Haus am Müggelseedamm nicht richtig gewöhnt.
Meine Frau Brigitte und ich waren zusammen mit FINDERS Anfang 2013 nach Berlin umgezogen und sesshaft geworden.
Intern stand bereits Mitte 2011 der Umzug von FINDERS nach Berlin fest. Der Umbau vom Flughafen Tempelhof als FINDERS Konzernzentrale bis Januar 2013 war äußerst ambitioniert gewesen. Aber es hatte geklappt, weil es einfach klappen musste. Der Standort Friedrichshafen platzte aus allen Nähten.
Man sollte also meinen, es wäre kein Problem gewesen, ein Einfamilienhaus in der gleichen Zeit zu bauen. Doch dieses Haus war eine ernste Belastungsprobe für unsere Beziehung. Ich hatte Mitte 2012 meinen Kindern Maya und Max die Kategorienagentur für den Bereich Schuhe überlassen, weil ich mich ganz um das Haus kümmern wollte. Auch wurde ich ständig bedrängt, ein Buch zu 7/11 zu schreiben.
Brigitte pochte auf ihr Recht, endlich gesellschaftlich so eingebunden zu sein, wie es die vielen Jahre auf dem Schiff nicht möglich gewesen war.
Wenn ich ehrlich zu mir bin, dann hatte ich das ständige Unterwegssein, wenn auch mit dem ganzen Zuhause, zuletzt auch ziemlich satt. Wir haben im letzten Jahr auf dem Schiff den Liegeplatz fast nicht mehr gewechselt.
Relativ einfach war es, mit unserem doch inzwischen beträchtlichen Vermögen ein Grundstück am See und gleichzeitig zentral in Berlin zu kaufen.
Das Grundstück liegt auf dem Hügel über dem Müggelsee und reicht den ganzen Hang herunter bis zu einem eigenen Anleger.
Über zwei Monate waren wir mit unserem alten 33 Meter langen Kohleschiff von Frankreich über Mosel, Rhein, Dortmund-Ems-Kanal, Mittellandkanal, Elbe-Seitenkanal unterwegs, bevor wir vor unserem Grundstück am Müggelsee Anker warfen. Das alles ging natürlich nicht ohne Einfluss und Sondergenehmigungen. Auch beschwerten sich die wohlhabenden Nachbarn beim Ordnungsamt, über den die Aussicht nicht verschönernden alten Kahn.
Doch als sie erfuhren, wer da vor Anker gegangen war, änderte sich die Stimmung schlagartig.
Ich wurde als Urgestein von FINDERS ständig gedrängt, Interviews zu geben. Inzwischen war ich ein regelmäßiger Kommentator zur durch 7/11 ausgelösten „englischen Krise“, die noch viele Jahre Einfluss auf die Weltwirtschaft haben würde.
Der alte Kahn wurde schließlich zu unserem Leidwesen zur Touristenattraktion. Mit dem ruhigen Bootsleben war es vorbei.
Doch Brigitte lebte auf. Sie wurde von den Nachbarn mit offenen Armen empfangen. Nach und nach wurde sie in die Berliner Oberschicht eingeführt.
Das alles setzte uns zusätzlich unter Druck, das Haus fertig zu stellen. Nach einigem hin und her einigten wir uns auf einen in Berlin gerade angesagten Ar-chitekten. Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was es bedeutet, ein Haus zu bauen. Das einzige was für uns feststand, es sollte Sonnenkollektoren haben und möglichst energiesparend gebaut sein. Außerdem hatte ich mich mit Brigitte geeinigt, dass es ein repräsentativer Bau werden sollte, in dem sie nach Belieben Gesellschaften geben könnte.
Der Architekt hat uns überzeugt, dass wir in einer Renaissance von ‚Mies van der Rohe’ leben würden und uns ein Haus mit viel Glas vorgeschlagen.
Die Fassade zur Straße sollte weitgehend geschlossen sein. Hier wurden in beiden Geschossen in Sichthöhe 40cm hohe Fensterschlitze geplant.
Dafür sollte die Seeseite aus einer sich über zwei Etagen erstreckenden Glaswand bestehen.
Die Schlafzimmer waren in der Planung im ersten Stock auf einer Galerie nur seitlich voneinander mit Wänden getrennt, nach vorne über dem Wohnzimmer aber nur mit einem Glasgeländer gesichert, ansonsten offen. Als dann der Rohbau fertig war, überkam mich das Grauen, in diesem offenen Museum leben und mich ausstellen zu müssen.
Sicher, das Haus würde repräsentativ, aber wie sollte ich mich zurückziehen, wenn ich an einer der zahlreichen Gesellschaften von Brigitte nicht teilnehmen wollte?
Ich versuchte, Brigitte klar zu machen, dass das Leben, was wir hierin führen würden, das glatte Gegenteil von dem Leben auf einem umgebauten Kohlefrachter mit einem dunklen nur über Bullaugen und Oberlichter erschlossenen Schlafzimmer sei.
Brigitte wurde richtig böse, dass ich ihr noch immer keine Gesellschaft gönnen wollte und auf mein altes Leben bestände. Doch das war nicht der Punkt.
Nun setzte ich mich mit ‚Mies van der Rohe’ auseinander und stolperte über einen Film, welcher in einem kleinen Szenekino lief. Er hieß ‚Haus Tugendhat’. Es war ein Dokumentarfilm über die jüdische Familie Tugendhat, die von den Nazis enteignet worden war und nun um die Zukunft des von ‚Mies van der Rohe’ gebauten Mutterhauses kämpften.
Haus Tugendtat gibt es auch heute noch. Viele Zeitzeugen wurden in dem Film befragt. Alle waren sich einig, es handelte sich um eine ganz besondere erhebende Atmosphäre, in diesem Haus zu sein.
Was mich allerdings stutzig machte, wie die Familienmitglieder Tugendhat in ihrem aktuellen Zuhause gefilmt wurden. Über Geschmack kann man streiten, aber alle leben in einer heimeligen Atmosphäre mit kleinen Zimmern und zugehängten Fenstern, eben dem genauen Gegenteil zu dem durch schlichte klare Linien geprägten minimalistischem Mutterhaus.
‚Kann man in einem solchen Haus wirklich leben und sich wohlfühlen?’, ich beschloss, seit langer Zeit das erste Mal, gegen Brigitte den Aufstand zu proben.