Frank Reagan stieg aus dem Flugzeug. Der kleine Flughafen vonEsbjerg machte einen sympathischen aufgeräumten Eindruck.
Dies war der erste Besuch von Frank Reagan in Europa. Bisher hatte er als überzeugter Amerikaner keine Veranlassung gesehen, die USA zu verlassen. Einmal war er in Mexiko gewesen. Als Wahl New Yorker fand er inzwischen seine Heimat Alabama zu provinziell, um diese zu besuchen. Er war nicht freiwillig hier. In New York besaß er eine erfolgreiche Werbeagentur. Nicht unwesentlich hierfür war, dass er mit einigen Suchmaschinengründern gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte. So hatte er bis heute einen direkten Draht, um zu erfahren, wann sich an den Regeln für Onlinemarketing etwas änderte. Auch wenn seine Klienten seine Konnektion nicht kannten, so wussten sie doch, er hatte diese und sie würden mit Anzeige ihrer Produkte auf den ersten Suchseiten belohnt werden. Natürlich beruhte so ein Deal auf Geben und Nehmen. Es war kein Zufall, dass die Agentur von Reagan schnell mit einem der größten Onlinewerbeetats ausgestattet wurde. Eben einer dieser wichtigen Schulfreunde hatte ihn letzte Woche angerufen und um einen Gefallen gebeten.
„Frank, wir haben ein Problem. Wir hatten speziell für das Scandinavian Search Event am 25. 7. einen PR Spezialisten aufgebaut. Der ist jetzt kurzfristig erkrankt. Kannst Du nicht die Vertretung übernehmen?“
„Ihr werdet doch in Europa einen Vertreter haben, der das übernehmen kann und die lokalen Gegebenheiten kennt?“
„Natürlich haben wir viele. Aber die meisten arbeiten nur für uns. In den einzelnen Foren sind viele eingebunden. Aber für die Podiumsdiskussion brauchen wir einen Neutralen. “
Frank musste grinsen. Es konnte genau so wenig diese Bitte ausschlagen wie sich auf der Konferenz neutral verhalten.
Freundschaft gab einem einen Vertrauensbonus, der genau dann verbraucht war, wenn man dieses Vertrauen einmal enttäuschte. Tatsächlich legte seine Agentur in ihrer Onlinedarstellung Wert auf Unabhängigkeit. Dies verstärkte nur die Mund zu Mund Propaganda über seine geheimen Beziehungen. Mit einem letzten zaghaften Versuch des Widerspruchs antwortete Frank:
„Ich war doch noch nie in Europa“
„Es ist wirklich wichtig, Frank. Ich weiß, wie gut Du auf dem Podium bist. Du kannst das. Die gesamte Diskussion ist in Englisch. “
Jetzt also war er hier in Esbjerg. Ehrlich gesagt, letzte Woche wusste er nicht einmal, wo Dänemark liegt, geschweige denn Esbjerg.
Gewohnheitsmäßig hatte er vor seinem Flug Esbjerg über Google Maps besucht. Die Luftaufnahme war wenig vielversprechend. Das konnten die doch nicht ernst meinen. Das war nicht einmal eine große Stadt. Als dann auch noch das Kongresshotel Britannia keine freien Zimmer mehr hatte, da beschloss Frank spontan, als absolute Alternativferien zu seinem üblichen Hotelurlaub in Florida ein paar Tage anzuhängen und zum ersten Mal in seinem Leben ein Ferienhaus zu mieten. An der Mietwagenstation stellte er erfreut fest, dass er einen Chrysler mieten konnte. Genau diesen Typ mietete er auch zuhause immer. Das Navigationssystem ließ sich problemlos auf englische Sprache umstellen.
Als Kontrast zu seiner sonstigen Vollverpflegung wollte er eine Woche auf eigenen Beinen stehen, ohne seine Mietköchin, die sich normalerweise nach einem perfekten Plan in Abwechslung mit mehreren Sternerestaurants um sein leibliches Wohl kümmerte. Plötzlich fand er es spannend, sein hektisches New Yorker Leben gegen die Abgeschiedenheit eines Ferienhauses zu tauschen. Ein Tag Vorbereitung auf das Podium sollten reichen, um Land und Leute kennen zu lernen.
Online hatte er ein Ferienhaus in Bjerregaard direkt am Meer gemietet. Dieser Ort war so klein, dass er auf einer normalen Karte nicht verzeichnet war. Obwohl er keine 40 km vom Flughafen aus fahren musste, kam ihm die Strecke endlos vor. Die schmale Landstraße endete immer wieder im Kreisverkehr. Das Navigationssystem teilte permanent die unverständlichen Straßennamen mit – auch dann, wennes eigentlich nur geradeaus ging. So musste er zweimal drehen, weil er im Kreisverkehr fälschlicher Weise abgebogen war.
Mehrfach fielen ihm Holzkästen auf, in denen Obst und Gemüse gelagert war. Daneben war mit Kreide ein Preis angeschrieben. Beim dritten Kasten hielt er an und stieg aus. Oben auf dem Kasten stand ein Schälchen, in welchem sich bereits einige Münze befanden.
„Wo war der Verkäufer?“ Kopfschüttelnd fuhr er weiter. Um 18. 00 Uhr kam er an der Vermieterstation vor der Ferienhaussiedlung an und holte sich den Schlüssel ab. Die Tür führte in einen Vorraum. Das eigentliche Büro war abgeschlossen. Verärgert griff Frank zum Handy und wollte die Nummer des Vermieters anrufen. Er blickte auf den Boden und zögerte. Hier standen einige Tüten mit Namen darauf. Tatsächlich fand Frank eine Tüte mit seinem Namen, darin den Hausschlüssel zum Ferienhaus und ausführlichem Infomaterial.
Wieder schüttelte Frank den Kopf. „Haben die hier denn keine Kriminalität?“
Gegenüber vom Vermieterbüro fand Frank einen Supermarkt. Der war von 9. 00 Uhr bis 19. 00 Uhr an sieben Tagen in der Woche geöffnet. „Na wenigstens etwas wie zuhause“. Als er bezahlte, fragte ihn die Kassiererin in Deutsch:“ Keine Kronen?“ Sie merkte sofort, dass er sie nicht verstand und wechselte auf gebrochenes Englisch:“ Haben Sie nur Euro?“
Was sollte er sonst haben. Er hatte in New York für die ersten Tage Euro gewechselt, schließlich fuhr er nach Europa. Sie akzeptierte sein Geld und gab ihm etwas in einer anderen Währung zurück. Als Frank die Augenbrauen hochzog sagte sie lächelnd „Dänische Kronen“.
Ob ein Tag ausreichen würde, dieses Land zu verstehen? Frank kamen langsam Zweifel.
Das Ferienhaus war großräumig. Es duckte sich in die Dünen, so dass es von außen viel kleiner aussah. Am nächsten Tag stand Reagan gegen 10. 00 Uhr auf und kaufte sich im Supermarkt fertig belegte Sandwichs. Heißen Kaffee in Pappbechern wie zuhause gab es nicht. Für die 200 Meter vom Ferienhaus war er natürlich mit seinem Auto gefahren. Erneut stellte er erstaunt fest, dass die meisten anderen Kunden mit dem Fahrrad gekommen waren. Die Männer waren in der Überzahl. Die Größe der Brötchentüten ließ darauf schließen, dass es sich um Familienväter handelte. Obwohl die umliegenden Ferienhäuser weniger als 10 Meter entfernt waren und der heideartige Bewuchs nur durch einige Rosensträucher und Nadelbäume unterbrochen wurde, bot das Haus einen hohen Grad an Intimität. Hierfür sorgte die hügelige Landschaft sowie Holzbalustraden welche dem Blick nur die Ausschnitte freigaben, in denen keine anderen Häuser zu sehen waren.
Die einen Meter hohen Balustraden umschlossen die auf drei Seiten des Hauses anschließenden Terrassen und ermöglichten, sich dem stets heftig wehenden Wind auf einer bereit stehenden Liege zu entziehen. Lag man so, erhöhte sich das Gefühl der Einsamkeit. Über den Balustraden schlossen einige sichtbare Hügel und Bäume an den mit leichten Kringelwölkchen bedeckten sonst blauen Himmel an. Bei 25 Grad ließ es sich auf der Terrasse gut aushalten. Frank frühstückte hier und machte sich anschließend Notizen. Ein wenig stolz auf seine Unabhängigkeit legte er mittags ein Fertiggericht in die Mikrowelle.
Dann bereitete er sich auf die Podiumsdiskussion vor und recherchierte noch ein wenig über Dänemark, Europa und das Finder Konsortium im Internet mittels einer Mobilfunkkarte von T – Mobile, welche er in New York in einem Flughafenshop gekauft hatte.
Um 21. 00 Uhr fiel ihm die Decke auf den Kopf. Schon bei der Fahrt vom Flughafen nach Bjerregaard war ihm klar geworden, hier würde er keinen Nachclub oder auch nur ein gutes Restaurant in der Nähe finden. Im Fernseher hatte er alle Sender ausprobiert. Außer BBC hatte er nur deutsche und dänische Sender gefunden.
Also beschloss Frank, sein Individualabenteuer voll auszukosten und am Strand den Sonnenuntergang zu beobachten. Den Strand konnte er zu Fuß in wenigen Minuten erreichen. Als er oben auf den Dünen stand, nahm der Wind kräftig zu. Der Großstädter Frank konnte sich dem Reiz des makellosen breiten Strands nicht entziehen. Die Sonne war zu einem roten Ball geworden ohne Bereitschaft zu zeigen, in nächster Zeit unterzugehen. Frank war so gefesselt, dass er nicht einmal den Schmerz im rechten Knie bemerkte. Seit einem Motorradunfall war dieses etwas kürzer und leicht überanstrengt. Lediglich eine ausgelegte Stickleiter hatte den steilen Aufstieg über feinen Sand zum Kamm der Düne erleichtert.
Natürlich kannte er diverse Strände aus den USA. Doch in der Regel befand sich hier eine Promenade mit diversen Freizeitaktivitäten, welche gerade in den Abendstunden das gesellschaftliche Leben zum Strand zogen. Auf die absolute Menschenleere dieses Strandes war er nicht vorbereitet gewesen.
Lediglich ein Mädchen saß bewegungslos am Wasser. Zwangsläufig setzte Frank sich zu ihr in Bewegung. Sie hatte lange schwarze Haare. Mit angezogenen Knien saß sie unmittelbar am Wasser. Die ganze Szene war genauso unwirklich wie vollkommen. Das Mädchen schien eins mit der Natur zu sein. Frank war selbstbewusst. Frauen freuten sich in der Regel, wenn er Notiz von ihnen nahm. Diese Szene jedoch ließ ihn zögern, das Mädchen anzusprechen.
Er setzte sich neben sie. Erst einige Zeit später für ihn nach einer Ewigkeit sagte er: „ What a lovely beach, isn´t it?“ Sie drehte langsam den Kopf, lächelte ein wenig belustigt und antwortete in akzentfreiem Englisch „Und so einsam, nicht wahr?“ Ein Mädchen war sie nicht. Im Gegenteil, sie war die erste Frau, bei der er sich von Anfang an wie ein kleiner Junge vorkam. Mindestens eine weitere Stunde saß er neben ihr ohne ein weiteres Wort zu sagen. Allmählich wurde es dunkler. Von dem roten Ball der Sonne war nur noch ein Widerschein am Horizont zu sehen.
Sie kamen doch noch ins Gespräch. Er erzählte ihr von New York und sie ihm von den Malediven. Die Zeit verging unbemerkt. Erst einige Stunden später stand Shaona auf ohne dies zu erklären und ging langsam zu den Dünen. Frank folgte ihr. Vor ihrem Ferienhaus blieben sie stehen. Richtig dunkel würde es hier im Sommer wohl nicht werden. Zum Abschied schaute sie zu ihm hoch „Shaona Magu heiße ich übrigens“.
„Frank Reagan“ sagte er und fügte schon aus Gewohnheit hinzu „ nicht verwandt mit dem Präsidenten, trotzdem in meiner Jugend mit der Spitznamen Number One versehen. “