Number One – Bjerregaard, Dänemark – Juli 2006, 5. Teil, Kapitel II

Frank  Reagan  stieg  aus  dem Flugzeug.   Der  kleine  Flughafen  vonEsbjerg  machte  einen  sympathischen  aufgeräumten  Eindruck.

Dies  war  der  erste  Besuch  von Frank  Reagan  in  Europa.   Bisher  hatte  er  als  überzeugter  Amerikaner  keine  Veranlassung  gesehen,  die  USA  zu  verlassen.   Einmal  war  er in  Mexiko  gewesen.   Als  Wahl  New  Yorker  fand  er  inzwischen  seine  Heimat  Alabama  zu provinziell,  um  diese  zu  besuchen.  Er  war  nicht  freiwillig  hier.   In  New  York  besaß  er eine  erfolgreiche  Werbeagentur.   Nicht  unwesentlich  hierfür  war,  dass  er  mit  einigen  Suchmaschinengründern  gemeinsam  die Schulbank  gedrückt  hatte.   So  hatte  er  bis  heute  einen  direkten  Draht,  um  zu  erfahren,  wann  sich  an  den  Regeln  für  Onlinemarketing  etwas  änderte.   Auch  wenn  seine  Klienten  seine  Konnektion  nicht  kannten,  so  wussten  sie  doch,  er  hatte  diese  und  sie  würden  mit  Anzeige  ihrer  Produkte  auf  den  ersten  Suchseiten  belohnt  werden. Natürlich  beruhte  so ein  Deal  auf  Geben  und  Nehmen.   Es  war  kein  Zufall,  dass  die  Agentur  von  Reagan  schnell  mit  einem  der  größten  Onlinewerbeetats  ausgestattet  wurde. Eben  einer  dieser  wichtigen  Schulfreunde  hatte  ihn  letzte  Woche  angerufen  und  um  einen  Gefallen  gebeten.  

„Frank,  wir  haben  ein  Problem.   Wir  hatten  speziell  für  das  Scandinavian  Search  Event  am  25. 7.   einen  PR  Spezialisten  aufgebaut.   Der  ist  jetzt  kurzfristig  erkrankt.   Kannst  Du  nicht  die  Vertretung  übernehmen?“

„Ihr  werdet  doch  in  Europa  einen  Vertreter  haben,  der das übernehmen  kann  und  die lokalen  Gegebenheiten  kennt?“

„Natürlich  haben  wir  viele.   Aber  die  meisten  arbeiten  nur  für  uns.   In  den  einzelnen  Foren  sind  viele  eingebunden.   Aber  für  die  Podiumsdiskussion  brauchen  wir einen  Neutralen. “

Frank  musste  grinsen.   Es  konnte  genau  so wenig  diese  Bitte  ausschlagen  wie  sich  auf  der  Konferenz  neutral  verhalten.

Freundschaft  gab  einem  einen  Vertrauensbonus,  der  genau  dann  verbraucht  war,  wenn  man dieses  Vertrauen  einmal  enttäuschte.   Tatsächlich  legte  seine  Agentur  in  ihrer  Onlinedarstellung  Wert  auf  Unabhängigkeit.   Dies  verstärkte  nur  die  Mund  zu Mund  Propaganda  über  seine  geheimen  Beziehungen. Mit  einem  letzten  zaghaften  Versuch  des  Widerspruchs  antwortete  Frank:

„Ich  war  doch  noch  nie  in  Europa“

„Es  ist  wirklich  wichtig,  Frank.   Ich  weiß,  wie  gut  Du  auf  dem  Podium  bist.   Du  kannst  das.   Die  gesamte  Diskussion  ist  in  Englisch. “  

Jetzt  also  war  er hier  in  Esbjerg.   Ehrlich  gesagt,  letzte  Woche  wusste  er nicht  einmal,  wo  Dänemark  liegt,  geschweige  denn  Esbjerg.

Gewohnheitsmäßig  hatte  er  vor  seinem  Flug  Esbjerg  über  Google  Maps  besucht.   Die  Luftaufnahme  war  wenig  vielversprechend.   Das  konnten  die  doch  nicht  ernst  meinen.   Das  war  nicht  einmal  eine  große  Stadt.   Als  dann  auch  noch  das  Kongresshotel  Britannia  keine  freien  Zimmer  mehr  hatte,  da  beschloss  Frank  spontan,  als absolute  Alternativferien  zu  seinem  üblichen  Hotelurlaub  in  Florida  ein  paar  Tage  anzuhängen  und  zum  ersten  Mal  in  seinem  Leben  ein  Ferienhaus  zu  mieten.   An  der  Mietwagenstation  stellte  er  erfreut  fest,  dass  er  einen  Chrysler  mieten  konnte.   Genau  diesen  Typ  mietete  er  auch  zuhause  immer.   Das  Navigationssystem  ließ  sich  problemlos  auf  englische  Sprache  umstellen.  

Als  Kontrast  zu  seiner  sonstigen  Vollverpflegung  wollte  er  eine  Woche  auf  eigenen  Beinen  stehen,  ohne  seine  Mietköchin,  die  sich  normalerweise  nach  einem  perfekten  Plan  in  Abwechslung  mit  mehreren  Sternerestaurants  um  sein  leibliches  Wohl  kümmerte. Plötzlich  fand  er  es  spannend,  sein  hektisches  New  Yorker  Leben  gegen  die  Abgeschiedenheit  eines  Ferienhauses  zu  tauschen.   Ein  Tag  Vorbereitung  auf  das  Podium  sollten  reichen,  um  Land  und  Leute  kennen  zu  lernen.

Online  hatte  er  ein  Ferienhaus  in  Bjerregaard  direkt  am  Meer  gemietet.   Dieser  Ort  war  so  klein,  dass  er  auf  einer  normalen  Karte  nicht  verzeichnet  war. Obwohl  er  keine  40  km  vom  Flughafen  aus  fahren  musste,  kam  ihm  die Strecke  endlos  vor.   Die  schmale  Landstraße  endete  immer  wieder  im  Kreisverkehr.   Das  Navigationssystem  teilte  permanent  die unverständlichen  Straßennamen  mit  –  auch  dann,  wennes eigentlich  nur  geradeaus  ging.   So  musste  er zweimal  drehen,  weil  er  im  Kreisverkehr  fälschlicher  Weise  abgebogen  war.   

Mehrfach  fielen ihm  Holzkästen  auf,  in  denen  Obst  und  Gemüse  gelagert  war.   Daneben  war  mit  Kreide  ein  Preis  angeschrieben.   Beim  dritten  Kasten  hielt  er an  und  stieg  aus.   Oben  auf  dem Kasten  stand  ein  Schälchen,  in  welchem  sich  bereits  einige  Münze  befanden.

 „Wo  war  der  Verkäufer?“  Kopfschüttelnd  fuhr  er  weiter. Um  18. 00  Uhr  kam  er  an  der  Vermieterstation  vor  der  Ferienhaussiedlung  an  und  holte  sich  den  Schlüssel  ab.   Die  Tür  führte  in  einen  Vorraum.   Das  eigentliche  Büro  war  abgeschlossen.   Verärgert  griff  Frank  zum  Handy  und  wollte  die Nummer  des  Vermieters  anrufen.   Er  blickte  auf  den  Boden  und  zögerte.   Hier  standen  einige  Tüten  mit  Namen  darauf.   Tatsächlich  fand  Frank  eine  Tüte  mit  seinem  Namen,  darin  den  Hausschlüssel  zum  Ferienhaus  und  ausführlichem  Infomaterial.

Wieder  schüttelte  Frank  den  Kopf.   „Haben  die hier  denn keine  Kriminalität?“    

Gegenüber  vom  Vermieterbüro  fand  Frank  einen  Supermarkt.   Der  war  von  9. 00  Uhr  bis  19. 00  Uhr  an  sieben  Tagen  in  der  Woche  geöffnet.   „Na  wenigstens  etwas  wie  zuhause“.   Als  er  bezahlte,  fragte  ihn  die  Kassiererin  in  Deutsch:“  Keine  Kronen?“  Sie  merkte  sofort,  dass  er sie nicht  verstand  und  wechselte  auf  gebrochenes  Englisch:“  Haben  Sie  nur  Euro?“ 

Was  sollte  er  sonst  haben.   Er  hatte  in  New  York  für  die  ersten  Tage  Euro  gewechselt,  schließlich  fuhr  er  nach  Europa.   Sie  akzeptierte  sein  Geld  und  gab  ihm  etwas  in  einer  anderen  Währung  zurück.   Als  Frank  die  Augenbrauen  hochzog  sagte  sie  lächelnd  „Dänische  Kronen“.

Ob  ein  Tag  ausreichen  würde,  dieses  Land  zu  verstehen?  Frank  kamen  langsam  Zweifel.

Das  Ferienhaus  war  großräumig.   Es  duckte  sich  in  die  Dünen,  so dass  es von außen  viel  kleiner  aussah.   Am  nächsten  Tag  stand  Reagan  gegen  10. 00  Uhr  auf  und  kaufte  sich  im  Supermarkt  fertig  belegte  Sandwichs.   Heißen  Kaffee  in  Pappbechern  wie  zuhause  gab  es  nicht.   Für  die  200  Meter  vom  Ferienhaus  war  er  natürlich  mit  seinem  Auto  gefahren.   Erneut  stellte  er  erstaunt  fest,  dass  die  meisten  anderen  Kunden  mit  dem  Fahrrad  gekommen  waren.   Die  Männer  waren  in  der  Überzahl.   Die  Größe  der Brötchentüten  ließ  darauf  schließen,  dass  es sich  um  Familienväter  handelte. Obwohl  die  umliegenden  Ferienhäuser  weniger  als  10  Meter  entfernt  waren  und  der heideartige  Bewuchs  nur  durch  einige  Rosensträucher  und  Nadelbäume  unterbrochen  wurde,  bot  das  Haus  einen  hohen  Grad  an  Intimität.   Hierfür  sorgte  die hügelige  Landschaft  sowie  Holzbalustraden  welche  dem  Blick  nur  die  Ausschnitte  freigaben,  in  denen  keine  anderen  Häuser  zu  sehen  waren.

Die  einen  Meter  hohen  Balustraden  umschlossen  die  auf  drei  Seiten  des  Hauses  anschließenden  Terrassen  und  ermöglichten,  sich  dem  stets  heftig  wehenden  Wind  auf  einer  bereit  stehenden  Liege  zu  entziehen.   Lag  man so,  erhöhte  sich  das  Gefühl  der  Einsamkeit.   Über  den Balustraden  schlossen  einige  sichtbare  Hügel  und  Bäume  an  den  mit  leichten  Kringelwölkchen  bedeckten  sonst  blauen  Himmel  an.   Bei  25  Grad  ließ  es  sich  auf  der  Terrasse  gut  aushalten.   Frank  frühstückte  hier  und  machte  sich  anschließend  Notizen.   Ein  wenig  stolz  auf  seine  Unabhängigkeit  legte  er  mittags  ein  Fertiggericht  in  die  Mikrowelle.

Dann  bereitete  er  sich  auf  die  Podiumsdiskussion  vor  und  recherchierte  noch  ein  wenig  über  Dänemark,  Europa  und  das  Finder  Konsortium  im Internet  mittels  einer  Mobilfunkkarte  von  T – Mobile,  welche  er  in  New  York  in  einem  Flughafenshop  gekauft  hatte.   

Um  21. 00  Uhr  fiel  ihm  die  Decke  auf  den  Kopf.   Schon  bei  der Fahrt  vom  Flughafen  nach  Bjerregaard  war  ihm  klar  geworden,  hier  würde er  keinen  Nachclub  oder auch  nur  ein  gutes  Restaurant  in  der  Nähe  finden.   Im  Fernseher  hatte  er  alle  Sender  ausprobiert.   Außer  BBC  hatte  er  nur  deutsche  und  dänische  Sender  gefunden.

Also  beschloss  Frank,  sein  Individualabenteuer  voll  auszukosten  und  am  Strand  den  Sonnenuntergang  zu  beobachten. Den  Strand  konnte  er  zu  Fuß  in  wenigen  Minuten  erreichen.   Als  er oben  auf  den Dünen  stand,  nahm  der  Wind  kräftig  zu.   Der  Großstädter  Frank  konnte  sich  dem  Reiz  des  makellosen  breiten  Strands  nicht  entziehen.   Die  Sonne  war  zu einem  roten  Ball  geworden  ohne  Bereitschaft  zu  zeigen,  in  nächster  Zeit  unterzugehen.   Frank  war  so  gefesselt,  dass  er  nicht  einmal  den Schmerz  im  rechten  Knie  bemerkte.   Seit  einem  Motorradunfall  war  dieses  etwas  kürzer  und  leicht  überanstrengt.   Lediglich  eine  ausgelegte  Stickleiter  hatte  den  steilen  Aufstieg  über  feinen  Sand  zum  Kamm  der Düne  erleichtert.   

Natürlich  kannte  er  diverse  Strände  aus  den  USA.   Doch  in  der  Regel  befand  sich  hier  eine  Promenade  mit  diversen  Freizeitaktivitäten,  welche  gerade  in  den Abendstunden  das  gesellschaftliche  Leben  zum  Strand  zogen.   Auf  die  absolute  Menschenleere  dieses  Strandes  war  er  nicht  vorbereitet  gewesen.

Lediglich  ein  Mädchen  saß  bewegungslos  am  Wasser.   Zwangsläufig  setzte  Frank  sich  zu ihr  in  Bewegung.   Sie  hatte  lange  schwarze  Haare.   Mit  angezogenen  Knien  saß  sie unmittelbar  am  Wasser. Die  ganze  Szene  war  genauso  unwirklich  wie  vollkommen. Das  Mädchen  schien  eins  mit  der  Natur  zu  sein.   Frank  war  selbstbewusst.   Frauen  freuten  sich  in  der  Regel,  wenn  er  Notiz  von  ihnen  nahm.   Diese  Szene  jedoch  ließ  ihn  zögern,  das  Mädchen  anzusprechen.    

Er  setzte  sich  neben  sie.   Erst  einige  Zeit  später  für  ihn  nach  einer  Ewigkeit  sagte  er:  „  What  a  lovely  beach,  isn´t  it?“ Sie  drehte  langsam  den  Kopf,  lächelte  ein  wenig  belustigt  und  antwortete  in  akzentfreiem  Englisch  „Und  so  einsam,  nicht  wahr?“ Ein  Mädchen  war  sie  nicht.   Im  Gegenteil,  sie  war  die  erste  Frau,  bei  der  er  sich  von  Anfang  an  wie  ein  kleiner  Junge  vorkam.   Mindestens  eine  weitere  Stunde  saß  er  neben  ihr  ohne  ein  weiteres  Wort  zu  sagen.   Allmählich  wurde  es  dunkler.   Von  dem  roten  Ball  der  Sonne  war  nur  noch  ein  Widerschein  am  Horizont  zu  sehen.

Sie  kamen  doch  noch  ins  Gespräch.   Er  erzählte  ihr  von  New  York  und  sie  ihm  von  den  Malediven.   Die  Zeit  verging  unbemerkt.   Erst  einige  Stunden  später  stand  Shaona  auf  ohne  dies  zu  erklären  und  ging  langsam  zu  den  Dünen.   Frank  folgte  ihr.   Vor  ihrem  Ferienhaus  blieben  sie  stehen.   Richtig  dunkel  würde es  hier  im  Sommer  wohl  nicht  werden.   Zum  Abschied  schaute  sie  zu  ihm  hoch  „Shaona  Magu  heiße  ich  übrigens“.

„Frank  Reagan“  sagte  er  und  fügte  schon  aus  Gewohnheit  hinzu  „  nicht  verwandt  mit  dem  Präsidenten,  trotzdem  in  meiner  Jugend  mit  der  Spitznamen  Number  One  versehen. “

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