Der Apotheker – John F. Kennedy Airport – 11. Juli 2011, Kapitel 40, Teil II

Am 11. Juli war Ryman um 9.00 Uhr wie vorgesehen am Parkplatz. Fast 30 Minuten musste er warten, bis er unbemerkt durch die Luke in den Wertraum einsteigen konnte. Kurz vorher hatte er die Folie von den Ausgabeautomaten gezogen.
Er nahm eine dicke Metallplatte und hob sie beim ersten Seitenfenster in die vorgesehenen Führungen. Auf der Rückseite der Metallplatte war ein Speichenrad ähnlich wie bei einem Tresor angebracht. Ryman drehte das Speichenrad, bis rings um die Metallplatte Riegel in die Befestigungen der Seitentür eingerastet waren. Er wiederholte den Vorgang für das Beifahrerfenster und die Frontscheibe. Nun saß er sicher wie in einem Tresor.

Die länglichen Kartons mit jeweils 500 Packungen waren an zwei Seiten perforiert. An der schmalen oberen Seite, ließ sich der gesamte Deckel abziehen. An der Unterseite drückte Ryman die Perforation ein. Es entstand ein Loch, das gerade so groß war, dass eine einzelne Packung hindurchfallen konnte.
Er steckte auf jeden der 30 Schalter in die entsprechende Vorrichtung einen geöffneten Karton.

Ryman saß im Wertraum und wartete.
Gemäß Anweisung sollte er um Punkt 10.00 Uhr über eine Taste die LED-Anzeige anschalten und jedesmal, wenn ein Karton leer war, einen neuen einschieben.
9.45 Uhr
Es war absolut still. Endlich hatte Ryman nach all dem Stress der letzten Tage ein wenig Zeit, nachzudenken.
Was machte er eigentlich hier? Wer um Himmels Willen sollte bei ihm Medikamente abholen?
Ryman beruhigte sich damit, in dem versuchte, sein Handeln aus dem Blickwinkel eines Juristen zu betrachten. Er stand nicht einmal im Parkverbot. Der Wagen war nicht geklaut. Er kannte kein Gesetz, dass ihm verbot, die Fenster mit Metallplatten zu sichern. Die Ladung hatte er mit offiziellen Papieren durch den Zoll gebracht.

Plötzlich begann er zu schwitzen. Panisch riss er eine Packung auf und probierte eine Tablette. Er kannte sich mit Drogen nicht aus, aber er schwor sich, in dem Moment, in dem er eine Wirkung verspüren würde, würde er sofort aussteigen.
Pleite war immer noch besser als Knast. Aber er spürte keine Veränderung.

Dann hörte er Geräusche. Es waren Menschen. Es waren viele Menschen. Jemand rappelte an der Tür.
Ryman fiel plötzlich ein, dass er die LED-Anzeige anmachen musste.
Sofort klackten die Ausgabeschalter. Der erste Geldsack blähte sich durch einen Windzug auf. Im Karton wackelte es. Die erste Medikamentenschachtel fiel aus dem Karton nach.
Auf einem kleinen LED-Feld, welches er vorher nicht bemerkt hatte, erschien eine „1“.
Sofort gab es wieder diesen Windzug. Der nächste Schalter arbeitete. Das Display zeigte eine „2“. Plötzlich begannen alle Schalter zu arbeiten.
Ryman kam nicht weiter zum Nachdenken. Servicebewusstsein lag ihm in Fleisch und Blut. Er ärgerte sich, dass er nicht vorher weitere Kartons geöffnet hatte. Dann hätte er noch schneller ausliefern können.
Eher im Unterbewusstsein registrierte er die zunehmende Anzahl der Stimmen draußen. Wo kamen nur all die Menschen her?

Weisungsgemäß hatte er nach 21.00 Uhr mehrere Pausen eingelegt. In der ersten Pause hatte er die Luke aufgeschlossen. Was er nun hörte, gefiel ihm gar nicht. Die Stimmen klangen absolut panisch. Den ganzen Tag waren je Schalter ca. 30 Medikamentenschachteln je Minute ausgegeben worden. Er war fast permanent damit beschäftigt, die Perforierung abzureißen und Kartons auszutauschen. Jedes mal, wenn ein Schalter leer war, wurde kräftig am LKW geklopft. Inzwischen füllte sich der Werteraum mit den leeren Kartons.
In der zweiten Pause benutze er ein Spezialwerkzeug, um den unter der Luke liegenden Gullydeckel zu öffnen.
Er dauerte länger als erwartet. Viele Schalter liefen leer. Der Laster wackelte immer heftiger, was Ryman die Arbeit auch nicht erleichterte. Schnell schob er die nächsten Kartons in die Schalter.
Jedes mal, wenn ein Geldsack voll war, wurde der Sack automatisch plombiert und von hinten klappte der nächste Sack nach vorne. In weiteren Pausen warf er gefüllte Geldsäcke durch das Gullyloch.

Um 22.00 Uhr zeigte das LED-Display 499.994 an. Er hatte alle Medikamente ausgegeben.
Sofort ging das Rütteln wieder los. Gerade rechtzeitig erinnerte sich Ryman daran, eine weitere Taste zu drücken. Und tatsächlich, das Rütteln hörte auf.
Was er nicht sehen konnte war, dass sich nach dem Betätigen der Taste der Anzeigetext veränderte. Anstelle von „Es sind genügend Medikamente dar. Legen Sie eine 100 Dollarnote in den Geldschlitz, sie erhalten sofort das Medikament“, wurde ab sofort angezeigt: „Bitte bewahren sie Ruhe, Nachschub wird in wenigen Minuten angeliefert.“
Ryman brauchte keine Anweisung, um zu wissen, dass er hier schnellst möglich verschwinden sollte. Gerade hatte er den Gullydeckel über sich zugezogen, da kippte der LKW über ihm um.

Ryman musste mehrfach im engen stinkenden Schacht hin und herlaufen, bis er alle Säcke durch das neu gebrochene Loch in die Garage gebracht hatte, wo anstelle des Schalter-LKWs ein neutraler Auslieferungswagen von ihm geparkt worden war.
Er brauchte fast 30 Minuten durch die Menschenmenge, bis er die ca. 150 Meter von der Garage bis zur Lieferanteneinfahrt des Flughafens geschafft hatte.

Hier wurde immer hart kontrolliert. Er öffnete einen weiteren Umschlag und fand die Frachtpapiere für die Geldsäcke. Richtigerweise war hier ausgefüllt: „Geldeinnahmen aus Medikamentenverkauf“. Als Empfänger war Human International Ltd. Liechtenstein via Hongkong angegeben.
Zu seiner Überraschung gab es am Frachttor überhaupt keine Kontrolle. Der Schlagbaum lag unten. Das Wachhaus war leer. Das hatte es noch nie gegeben, was war hier los?
Ryman öffnete die Schranke, fuhr in den Flughafen und vergaß nicht, die Schranke wieder zu schließen.

Die Frachtmaschine von IPC hatte schon ihre Turbinen gestartet. Kurz nachdem die Geldsäcke verladen waren, startete die Maschine nach Hongkong.

Ohne darüber nachzudenken, warum er diese ungewöhnliche Entscheidung traf, beschloss Ryman diese Nacht im Büro seines Lagers auf dem Flughafengelände zu verbringen.
Irgend wo musste doch noch ein alter Schlafsack sein.
Erst da merkte er, dass seine Kleidung noch immer nassgeschwitzt war.

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