Bürokratieabbau – Kamp-Lintfort – Herbst 2005, 4.Teil, Kapitel II

An  einem  grauen  Herbsttag  fuhr  Nass  auf  der  Landstraße  zu  seinem  nächsten  Projekt.   Nass  war  einer  von  30  Projektleitern  der  Unternehmensberatung  Benning  und  Co. ,  welche  im  Auftrag  der  Bundesregierung  dieStrukturreform  von  Bund,  Ländern  und  Kommunen  auf  Basis  der  neuen  Kategorienstruktur  umsetzte. Innerlich  fühlte  sich  Nass  müde.   Drei  Jahre  war  er  nun  dabei.   Nachdem  2002  die Semantikredaktion  die  Kategorien  für  die  öffentliche  Hand  freigegeben  hatte,  wurde  in  Bund  und  Ländern  zwei  Jahre  darum  gerungen,  alle Abteilungen,  Ministerien,  etc.   den  für  die  Bürger  auf  Eindeutigkeit  überprüften  Kategorien  zuzuordnen. 2004  dann  hatte  man die  Städte  über  50. 000  Einwohner  abgearbeitet.  Umso  kleiner  die  Städte  wurden,  desto  größer  wurden  die Probleme.  

Vorbei  am  Schild  zu  einem  Technologiezentrum,  dann  links  vorbei  an  den  alten  von Siemens  übernommenen  Produktionshallen  des  Mobilfunkherstellers  BenQ,  sah  Nass  rechts  den alles  überragenden  Förderturm  mit  dem  Zechengelände  vor  sich. Die  Kumpel,  welche  die Straße  überquerten,  ließen  keinen  Zweifel  daran,  dass  hier  noch  im  Bergbau  gearbeitet  wurde. Wie  eine  Zeitreise  in  die  Vergangenheit  kam  es  ihm  vor.   Er  hielt  an  einer  Ampel.   Sein  Blick  fiel  auf  einen  grauen  Kasten,  der wohl  den Einkaufsmittelpunkt  der  Stadt  darstellte.   Irgendwie  schien  hier  nach  dem  Wirtschaftswunder  der  60er  Jahre  die  Zeit  stehen  geblieben  zu  sein. Seine  Gedanken  schweiften  ab  zur  Schulung  vor  wenigen  Wochen  in  der FINDERS  Zentrale  in  Friedrichshafen.   Er  hatte  sie  immer  noch  nicht  vergessen.   Shaona  Magu,  was  für  ein  Name.   Und  was  für  eine  quirlige  kleine  Person! Sie  stammte  aus  den  Malediven  und  hatte  sich  bestimmt  ähnlich  gefühlt,  als  sie  eine  Zeitreise  aus  der  Vergangenheit  ihrer  Insel  in  die  hochtechnologische  Gegenwart  von  FINDERS  hinter  sich  brachte. Energisch  hatte  sie  erklärt:  „  Sie  werden  immer  wieder  in  Ihrer  Arbeit  feststellen,  dass  die  Behörden  versuchen,  Besitzstände  zu  sichern.  Die  Kategorien  sind  für  das  einfache  Verständnis  des  Bürgers  definiert.   Sie  sind  eine  Verdichtung  des  sprachlichen  Standards.   Lassen  Sie  sich  auf  keine  Diskussionen  ein!“  

Nur  mit  halbem  Ohr  hatte  er  zugehört.   Viel  interessanter  war  es,  ihren  vollen  Mund  zu beobachten.

Er  war  sich  sicher,  das  Paket  mit  allem  Glück  der Welt  war  bereits  verschnürt  und  versendet  worden  und  er  könnte  nie  der  Empfänger  werden.   So  eine  Frau  konnte  einfach  nicht  mehr  zu  haben  sein. Das  Hupen  des  Hintermanns  brachte  ihn  wieder  in  die  Gegenwart  zurück.   Nachdem  er  sich  einen  Parkplatz  gesucht  hatte,  betrat  er  das  Rathaus.  

In  dem großen  Rathaussaal  wurde  er  bereits  erwartet.   Auch  die  10  Mitarbeiter  seines  Teams  waren  vollständig  anwesend. Es  war  einige  Minuten  vor  10. 00  Uhr.   Die  Koordination  der  Zusammenarbeit  hatte  die  Stadt  an  ihren  technischen  Mitarbeiter  Frank  Bitter  delegiert. Dieser  schaltete  den  Beamer  ein  und  aus,  ohne  ihm  ein  Licht  zu  entlocken.   Nass  verschwendete  keinen  Gedanken  daran,  ob  hier  mal  wieder  der Versuch  unternommen  wurde,  die  Zusammenarbeit  zu  sabotieren.   Er  sprach  kurz  zu  einem  seiner  Mitarbeiter  „Unser  Equipment. “

Der  Mitarbeiter  baute  den mitgebrachten  Beamer  und  Laptop  mit  Mobilfunkkarte  auf.   So  war  sichergestellt,  dass  auch  die  Internetleitung  funktionierte.  

Nass  erläuterte  kurz  dem  Stadtdirektor  und  den  Abteilungsleitern  sein  Vorgehen:

„Unsere  Beratung  verläuft  in  drei  Phasen. Zuerst  bekommen  alle  Mitarbeiter  der  Stadt  –  auch  die  der  stadtnahen  Institutionen  wie  Stadtwerke  etc.   –  einen  Fragebogen.   Jeder  Mitarbeiter  soll  beschreiben,  welche  Aufgaben  er  aus  seiner  Sichtweise  gegenüber  Bürgern  erfüllt. Dieser  Fragebogen  wurde  in  Zusammenarbeit  mit  einer dem statistischen Durchschnitt entsprechenden Gruppe von Bürgern  erstellt.   Die  Antworten  sollten  so  formuliert  sein,  dass  jeder  Bürger  versteht,  was  in  dem jeweiligen  Amt  passiert.   In  der zweiten  Phase  stimmen  wir die Aufgaben  mit  unseren  Kategorien  ab. In  der  dritten  Phase  haben  Sie  die  Möglichkeit,  eine  neue  Kategorie  vorzuschlagen,  wenn  Sie  sich  mit  Ihrem  Arbeitsbereich  nicht  zuordnen  können“. „Na,  welche  Informationen  hier  wohl  bereits  angekommen  waren?“  überlegte  Nass.   Am  Anfang  hatte  jedes  Bundesland,  jede  Stadt  versucht,  neue  Kategorien  durchzudrücken.   Nachdem  bei  der  zentralen  Aufarbeitung  der  Anfragen  immer  wieder  festgestellt  wurde,  dass  Abteilungen,  welche  sich  nicht  einordnen  konnten,  entweder  das  Gleiche  wie  eine  andere  Abteilung  oder unsinnige  Arbeiten  erledigten,  und  somit  eingespart  werden  konnten,  hatte  die  Anzahl  der Vorschläge  schlagartig  abgenommen. Zwei  Tage  waren  seine  Mitarbeiter  damit  beschäftigt,  bei  dem Ausfüllen  der  Fragebögen  zu  helfen.   Am  Abend  des  zweiten  Tages  saß  Nass  mit  seinem  Team  über  der  Auswertung  der  Fragebögen.

„Niederrheinische  Betonköpp,“  murmelte  ein  Mitarbeiter.   Nass  sah  ihn  scharf  an.   Es  war  bei  Benning  und  Co.   ein  eisernes  Gesetz,  dass  mansich  nie  negativ  über  seine  Kunden  äußerte. „Ich  weiß  gar  nicht,  was  Sie  haben,  ich  habe  mit  Schlimmerem  gerechnet.   Sie  dürfen  Kamp – Lintfort  nicht  mit  der  Organisation  z. B.   von  Köln  vergleichen. “  

Am  nächsten  Tag  verlief  die  zweite  Phase  erstaunlich  problemlos.   Das  System  der Aufgaben  in  Kamp  -Lintfort  war  durchdacht.   Vor  dem  Rathaussaal  traf  Nass  den  Wirtschaftsförderer.

„An  ihren  Strukturen  war  aber  schon  eine  Unternehmensberatung  dran?   Das  war  doch  ordentlich  teuer.   Kann  die  Stadt  sich  so  was  überhaupt  leisten?“

Der  Wirtschaftsförderer  sah  ihn  wütend  und  irritiert  zugleich  an,  sagte  aber  nichts. In  der  anschließenden  Sitzung  wurden  keine  weiteren  Kategorien  vorgeschlagen.   Nass  und  sein  Team  waren  zufrieden.   Sie  wurden  pauschal  bezahlt  und  waren  hier  zwei  Tage  früher  fertig  als  erwartet.

„War  das  nicht  ein  Wink  des  Schicksals,  Shaona  einfach  anzurufen?“  dachte  Nass.

Rückblick  auf  das Jahr  2005

Google  hatte  begonnen,  systematisch  selbst  Dienste  in  den  Bereichen  anzubieten,  welche  am  häufigsten  von  Nutzern  abgefragt  wurden. Das  häufigste  Keyword  war  über  Jahre  Routenplaner.   Hier  kaufte  Google  verschiedene  Firmen  und  brachte  Google  Earth  und  Google  Maps  auf  den  Markt.

Das  zweithäufigste  Keyword  war  Wetter.   Google  bot  darauf  hin  zahlreiche  Wetterdienste  und  Möglichkeiten  an,  das  regionale  Wetter  über  sogenannte  Gadgets  immer  im Browser  anzuzeigen. Ein  weiteres  Keyword  war  Telefonbuch.   Google  baute  systematisch  in  Google  Maps  alle  Firmenadressen  ein.    

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